Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
Kehle zu schlagen. Vielleicht waren es auch die garstigen Zotteln auf seinem Kopf – blutige Dornenranken, die sich wie Medusas Schlangen gierig auf alles Lebendige stürzten, Wärme und Glück heraussogen und verschlangen.
Emma schloss die Augen, atmete tief und gleichmäßig. Sie rief ihren Schutzengel an, bat ihn um Hilfe und Unterstützung. Dann versetzte sie ihren Geist auf eine blühende Sommerwiese, spürte das feuchte Erdreich unter ihren nackten Füßen, genoss den würzigen Duft nach Kräutern und Tannennadeln. Emmas Geheimrezept gegen aufkeimende Panik wirkte auch diesmal. Allmählich verebbte die Furcht, ihr Herzschlag verlangsamte sich, ihre Anspannung ließ nach. Dennoch, so ging es nicht weiter. Sie war vielleicht abergläubisch, aber mit Sicherheit nicht feige. „Hallo“, sagte Emma und zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. „Mein Name ist Emma. Wie heißen Sie?“
„Henrik.“ Seine Stimme war kühl und knarzend wie ein schlecht geöltes Metallscharnier.
„Und was machen Sie hier in Kitzbühel?“ Emma wollte sich ihre Unsicherheit auf keinen Fall anmerken lassen.
„Urlaub.“
„Ah, interessant, aber Schifahrer sind Sie wohl nicht?“ Ihr war erneut aufgefallen, dass der Fremde Stiefel trug und keine Schiausrüstung dabei hatte. „Oder haben Sie Ihre Bretter oben am Berg vergessen?“
Emma lachte, aber selbst in ihren eigenen Ohren klang es hohl und schrill.
„Nein.“
„Sind Sie in Kitzbühel, um Après-Schi-Partys zu feiern?“
„Hm“, grunzte Henrik und wandte den Kopf ab. Ein deutliches Zeichen, dass er ihr Gespräch für beendet hielt.
Dann eben nicht, du sturer Hund
, dachte Emma verärgert. Immerhin fühlte sie sich durch diesen Henrik nicht mehr bedroht. Nur weil sich jemand introvertiert gab, hieß das noch lange nicht, dass er gefährlich sein musste. Oder ein Mörder.
Emma schmunzelte.
*
„Hey“, sagte Sonja und lächelte. „Ich heiße Sonja, und das ist mein Freund Raphael. Wer seid ihr?“
„Sandra“, sagte eines der beiden Mädchen. Die junge Frau besaß brünettes, kinnlanges Haar, grüne Augen und war für ihr Alter eher klein gewachsen. Ihre Ohren wirkten spitz zulaufend, wodurch Raphael die spontane Assoziation einer
Elfe
hatte.
„Ich bin die Michelle“, sagte die andere. Ihre dunklen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein fein geschnittenes Gesicht umrahmte große, annähernd schwarze Augen. Dazu kamen volle, blutrote Lippen, die jeden Mann in den Wahnsinn treiben konnten. Wäre Raphael etwas jünger gewesen, hätte ihn die Kleine durchaus interessiert. Besser gesagt, um einiges jünger, denn Michelle konnte höchstens sechzehn sein. Dazu kam freilich, dass Raphael vergeben war. Wenn auch nicht verheiratet.
Er biss sich auf die Lippen.
„Seid ihr allein unterwegs?“, erkundigte sich Sonja.
„Nein.“ Sandra schüttelte den Kopf. „Mit ein paar Freunden. Aber die sitzen in den Kabinen vor uns.“
„Oder sind schon oben in der Station“, meinte Sonja. „Wenn’s wahr ist, dauert es auch bei uns nicht mehr lange.“
„Hoffentlich“, sagte Sandra leise. „Eigentlich habe ich ja Höhenangst.“
„Höhenangst?“ Sonja runzelte die Stirn. „Und da steigst du in eine Seilbahn ein?“
„Na ja …“ Sandra linste zu ihrer Freundin hinüber. „Ich wollte nicht als feige da stehen.“
„Hey“, protestierte Michelle. „Schau mich nicht so an. Ich habe dich nicht gezwungen, im Gegenteil.“
„Jaja, du hast ja recht“, sagte Sandra und zog eine Schnute. „Bin selber schuld.“
„Also, ich bin nicht freiwillig hier“, behauptete Sonja und nickte bekräftigend, als ihr die beiden Mädchen einen zweifelnden Blick zuwarfen. „Raphael hat mich dazu überredet, weil er unbedingt die Dreiseilumlaufbahn sehen wollte. Und was habe ich davon? Gefangen in einer winzigen Kabine, mitten in einem tobenden Sturm und vierhundert Meter über dem Boden. Daher mein Rat: Hört niemals auf einen Mann!“
Grinsen, kichern, Augenzwinkern.
Na toll
, dachte Raphael und presste die Lippen aufeinander.
Das war jetzt notwendig
.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Bergewagen
Samstag, 6. Januar, 10:53 Uhr
„Sollten wir nicht umkehren?“, fragte Jürgen und deutete auf die sich rasch nähernde Wolkenwand im Westen. „Sieht doch aus wie vorhin, als der Sturm losgegangen ist.“
„Nein.“ Natascha schüttelte den Kopf. „Da war der Himmel tiefschwarz. Ich glaube nicht, dass es noch mal so schlimm wird. Dürfte der Schneefall sein,
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