Kabine 14: Ein Kitzbühel-Thriller (German Edition)
den sie angekündigt haben. Außerdem sollen wir ja nachsehen, was mit dem Zugseil los ist.“
„Na gut.“ Jürgen zuckte die Achseln. „Wie du meinst.“
Sie näherten sich der Seilbahnstütze. Die gigantische Metallkonstruktion war achtzig Meter hoch, das betonierte Fundament fast zehn Meter breit. Es war ein Koloss aus Stahl, monströs und unansehnlich, aber dennoch eine technische Meisterleistung. Natascha wusste, dass es besonderer Anstrengungen bedurft hatte, um den Betonsockel im Permafrostboden des Hanges zu verankern. Er war auf mehreren Einzelfundamenten errichtet, die beweglich waren und gegebenenfalls nachgestellt werden konnten. Eine starre Konstruktion hätte die Schwankungen des Untergrunds nicht ausgleichen können und wäre über kurz oder lang zusammengebrochen.
„Nicht so schnell“, sagte Natascha, als sich der Bergewagen bis auf wenige Meter der Seilbahnstütze genähert hatte. „Ich glaube, ich sehe, wo das Problem liegt. Bei den Seiltragrollen auf der linken Seite.“
Aufmerksam musterten sie die besagte Stelle. Durch das Schlingern des Bergewagens und den soeben einsetzenden Schneefall, war es schwierig Einzelheiten zu erkennen. Darüber hinaus legte der Wind zu. Natascha hoffte inständig, dass die Böen nicht weiter an Stärke gewannen. Sie befanden sich hundert Meter über dem Boden, ungeschützt auf freier Seilstrecke. Falls der Sturm abermals Orkanstärke erreichte, dann …
Sie musste eine Entscheidung treffen. Jetzt. Sofort.
„Ich steige auf das Fahrrad“, sagte Natascha und erhob sich. „So komme ich näher heran.“
„Und wenn ich einfach weiterfahre?“
„Nein. Wir wissen nicht, was genau mit dem Seil passiert ist. Vielleicht sind Tragrollen beschädigt, und die Belastung durch den Bergewagen wäre zu groß.“
„Gut. Aber sei vorsichtig.“
Beim Klang dieser Worte verspürte Natascha den sachten Widerhall einer Erinnerung. Irgendjemand hatte ihr vor nicht allzu langer Zeit geraten, vorsichtig zu sein. Jemand, der ihr sehr viel bedeutete. Jemand, den sie liebte.
Entschlossen erhob sich Natascha von ihrem Sitz und kämpfte sich gegen den zunehmenden Sturm auf den Sattel des Fahrrads. Mit aller Macht trat sie in die Pedale, fuhr bis an die ersten Streben der Seilbahnstütze heran. Heftige Windböen fauchten um ihre Ohren, das Brausen verschluckte jeden weiteren Laut. Schneekristalle prasselten auf ihre Wangen und verklebten ihre Lider.
Natascha kniff die Augen zusammen und beugte sich nach vorn. Mehrere Zugseilrollen waren verbogen, wenigstens eine gesplittert. Das Zugseil selbst war von den Rollen gerutscht. Es erweckte den Eindruck, als wäre das Stahltau gesprungen und mit dem darunter befindlichen Metallträger verschmolzen.
Ein heftiger Ruck ließ das Fahrrad erzittern. Hastig griff Natascha nach der Lenkstange, als ihr ein weiterer, noch heftigerer Schlag die Strebe aus der Hand prellte. Sie verlor das Gleichgewicht, kippte seitlich vom Gefährt und stürzte kopfüber in die Tiefe. Nicht der geringste Laut kam über ihre Lippen.
Schiregion Kitzbühel, 3S-Bahn, Kabine 14
Samstag, 6. Januar, 10:57 Uhr
„Fährt der Bergewagen zurück?“
Emmas Frage ließ die Gespräche verstummen. Ein Dutzend Augenpaare wandten sich der fernen Seilbahnstütze zu. Eindeutig. Der Bergewagen hatte den Retourgang eingelegt und rollte schaukelnd und schlingernd in Richtung Gipfel.
„Vielleicht ist der Wind zu stark“, mutmaßte Sebastian. „Soviel ich weiß, sind die Bergewagen nur bis einhundertzehn Stundenkilometer zugelassen.“
„Der war schon fast bei uns“, murrte Doris und nahm Samantha in den Arm, die sich verunsichert an ihre Seite drückte.
„Ich nehme an, sie werden es wieder versuchen, wenn der Wind nachlässt.“
„Und wenn er nicht nachlässt?“, fragte Matteo. „Die kommende Wetterlage ist eine typische Sturm- und Schneelage für die Nordalpen. Kann durchaus sein, dass es tagelang so weitergeht.“
„Tagelang?“ Emma war schockiert.
„Na ja“, Matteo bewegte vage den Kopf. „Ein, zwei Tage wären schon möglich.“
„So lange?“, quietschte Sandra und riss ihre behandschuhten Hände vor den Mund. „Das stehe ich nie und nimmer durch!“
„Ich denke, wir sollten mit den Verantwortlichen sprechen“, sagte Rüdiger und wandte sich Sebastian zu. „Dann wissen wir zumindest, auf was wir uns einstellen müssen.“
„Gute Idee.“ Sebastian nickte. „Dürfte ich wieder dein Telefon …?“
Während Rüdiger dem Mitarbeiter der
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