Kälteeinbruch (German Edition)
bei Holm im Haus gewesen, doch er konnte nicht der Täter sein.
Na gut. Natürlich konnte er der Täter sein. Theoretisch. Doch Anton glaubte nicht, dass es auch praktisch möglich war. Er hatte sich an Nils Jahr und Karl Skarvik festgebissen. Einer der beiden war der Schlüssel zu dem Geheimnis. Vielleicht war er selbst auch nur verbittert. Möglicherweise gelüstete es ihn nach der Sache mit Elisabeth nach Rache, doch auch unabhängig davon glaubte er nicht, dass ihn sein Bauchgefühl und sein Instinkt vom ersten Tag an im Stich gelassen hatten.
«Ja … das ist eigentlich schon alles», sagte Herman Rödelheim am anderen Ende der Leitung. «Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was Sie sich von diesem Gespräch erhofft hatten. Mit Karl ist doch alles in Ordnung?»
«Mit Karl ist alles in Ordnung, ja …»
Rödelheim schien noch etwas sagen zu wollen, hielt sich jedoch zurück.
«Nils Jahr. Sagt Ihnen der Name was?»
«Mja … Kommt mir irgendwie bekannt vor, aber …»
«Ein Typ Anfang dreißig. Ist in seiner Jugend missbraucht worden, hat außerdem noch ein Drogenproblem.»
«Ja, richtig», kam es sofort. «Der Investor. An den erinnere ich mich gut.»
«Weshalb?»
«Na ja, es ist so, dass wir uns jeden ersten Montag im Monat zu einer sogenannten Überweisungssitzung zusammensetzen. An dem Tag gehen wir die einzelnen Überweisungen der Hausärzte durch. Diese Tage sind hart, oft müssen wir fünfundsiebzig Prozent der Patienten weiterschicken, was bedeutet, dass sie noch länger auf eine Behandlung warten müssen.» Rödelheim holte Luft. «Unsere Kapazitäten reichen einfach nicht aus, um jeden Monat so viele neue Patienten aufzunehmen, maximal fünf oder sechs, und das gilt für die Zeit, als Karl noch bei uns war. In letzter Zeit hatten wir mehrere Sitzungen, bei denen wir alle wegschicken mussten.»
Meine Güte, dachte Anton, komm auf den Punkt.
«Wir müssen entscheiden, welche Patienten am dringendsten Bedarf haben – aber eigentlich ist es ja bei allen dringend. Je nach Kapazität wählen wir dann einzelne Patienten aus und schicken das Gros weiter.»
Anton saß da und beobachtete eine Plastiktüte, die über den Parkplatz wirbelte. Sie wickelte sich um einen Laternenpfahl, bis sie vom nächsten Windstoß die Straße hinauf zu dem Haus getragen wurde, in dem der kleine Junge mit seiner süßen Mutter wohnte. Anton verfolgte den Tanz der Tüte weiter im Rückspiegel.
Herman Rödelheim war zweifelsohne der redseligste Psychologe im ganzen Land.
«Und bei der letzten Überweisungssitzung, an der auch Karl teilgenommen hat, bekamen wir die Akte von Nils Jahr auf den Tisch.»
Anton nahm den Blick von der Plastiktüte im Spiegel. Starrte stattdessen die Wand der Tagesstätte an und hörte zu.
«Ich weiß noch, dass ich sie mir zuerst angesehen habe, dann habe ich sie jedoch zur Seite gelegt. Mir war sofort klar, dass das ein heftiger Fall war. Der Mann … also, da ich davon ausgehe, dass es sich hier um eine polizeiliche Ermittlung handelt und Sie schon eine ganze Menge über den Patienten zu wissen scheinen, rede ich ganz offen. Das ist keineswegs üblich, Herr Brekke, aber das ist Ihnen ja sicherlich klar?»
«Ja, natürlich. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass wir das so unbürokratisch lösen.»
«Mhm. Wo war ich?»
«Sie sagten, er sei ein heftiger Fall …» Anton war jetzt ganz Ohr.
«Ja – es war heftig. Kann mich noch erinnern, dass dort stand, in seiner Jugend sei
etwas Furchtbares
passiert, das ihn immer wieder einhole und ihm noch im Erwachsenenalter zu schaffen mache. Wie gesagt, ich habe die Mappe zur Seite gelegt, auf einen gesonderten Stapel, den wir noch einmal gemeinsam begutachten, nachdem wir alle Überweisungen gesichtet haben. So eine Art Stapel für den zweiten Durchgang, falls Sie verstehen.»
Anton verstand.
«Zu diesem Zeitpunkt hatte Karl die Behandlung seiner Patienten, die er über unser Zentrum betreute, bereits abgeschlossen. Nur bei sehr wenigen stand die letzte Sitzung noch aus, aber Karl hatte sich mit uns zusammengesetzt, damit es schneller ging. In der zweiten Begutachtungsrunde kamen wir dann zu Nils Jahr. Karl sah sich den Fall kurz an und sagte, er würde ihn übernehmen.»
«Obwohl er in derselben Woche aufhören wollte?»
«Ja. Sowohl Hamre als auch ich meinten, das sei nicht nötig. Jahr würde bei ihm maximal eine Sitzung wahrnehmen können, dann müssten wir ihn schon wieder zum nächsten Therapeuten weiterschicken, doch Karl beharrte darauf.
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