Kälteeinbruch (German Edition)
hin und her. «Das Karo war so!» Wieder deutete er auf die Uhr. «Aber die Farbe ist ganz falsch!» Er baute die Spielfiguren auf dem Brett auf. «Du bist viel netter als der andere Polizist.»
«Ich weiß.»
«Mama», rief der Junge. Die Mutter war mit Antons leerer Kaffeetasse in der Küche verschwunden.
«Ja?», fragte sie und kam zurück ins Wohnzimmer.
«Wo Papa doch arbeiten muss, vielleicht will der Mann ja mit uns Weihnachten feiern?»
Die Mutter lachte verlegen. «Das glaube ich nicht. Wir fahren doch zu Oma und Opa.»
«Er kann ja mitkommen, dann kann er mit Opa Schach spielen.»
Die Mutter ging rasch zum Sofa, legte ihrem Sohn die Hände auf die Wangen und streichelte sie sanft. «Der Mann feiert mit seiner eigenen Familie Weihnachten, weißt du. Überleg mal, wie enttäuscht die wäre, wenn er stattdessen mit uns feiern würde. Du warst doch auch ganz traurig, als Papa gesagt hat, dass er arbeiten muss, oder?»
Der Junge schien nachzudenken. Nickte seiner Mutter zur Bestätigung zu. Er erinnerte sich. Dann verschwand er in der Küche.
Die Mutter begleitete Anton zur Tür. Er schlüpfte in die Schuhe und trat draußen auf die Treppe. Die Mutter lehnte sich an den Türrahmen.
«Vielen Dank, das war sehr nett von Ihnen», sagte sie. «Er hätte es aber auch verkraftet zu verlieren.»
«Ich habe mein Bestes gegeben», log Anton. «Meinen Sie, er könnte sich noch ein paar Fotos von verschiedenen Autos angucken, vielleicht erkennt er ja sein Karoauto wieder? Dann hätten wir zumindest mal eine Automarke als Ausgangspunkt.»
«Das wäre vergebene Liebesmüh», antwortete sie und sah auf ihre Socken. «Ein Auto ist ein Auto. Nachdem ihre Kollegen hier waren, habe ich versucht, mit ihm zu reden, ob ihm vielleicht noch etwas einfällt, aber vergebens. Das Einzige, worauf er sich konzentrieren kann, sind Spiele.»
«Mmh. Verstehe. Ein Auto ist ein Auto. Egal ob groß oder klein?»
«Über so was macht er sich keine Gedanken. Ein Lastauto ist trotz allem ein Auto. Aber das mit dem Loch … das hat er heute zum ersten Mal erwähnt. Dass das Karoauto ein Loch hatte.»
«Hat er das nicht gesagt, als meine Kollegen hier waren?»
«Nee.»
«Okay», sagte Anton und setzte einen Fuß auf die zweite Treppenstufe. «Dann noch ein schönes Wochenende und frohe Weihnachten.»
«Danke, gleichfalls», sagte sie und lächelte.
Anton ging die Straße hinunter zur Tagesstätte, wo sein Auto parkte. Auf halber Strecke drehte er sich um. Sie stand immer noch auf der Treppe und sah ihm nach. Er winkte. Sie nahm eine Hand hoch, ging hinein und schloss die Tür.
Der Mann feiert mit seiner eigenen Familie Weihnachten.
Wenn er nicht so feige gewesen wäre, hätte er geantwortet: Nein, ich habe keine Familie mehr und würde liebend gern mit euch Rippchen essen. Verdammtes Weihnachten. Wäre es nicht so unglaublich peinlich, würde er seine Koffer packen und mit seinen Eltern nach Gran Canaria fliegen.
Er öffnete die Autotür. Stieg ein. Zog sie fest zu.
Karl Skarvik. Der Name ließ ihn nicht los. Irgendwas war mit Skarvik. Sein ganzes Auftreten im Krankenhaus. Dass er Anton zu kennen schien und doch das Gegenteil behauptete.
Welcher Psychologe war nach nicht einmal zwanzig Minuten bei einem Patienten? Sogar die aus der Akutpsychiatrie brauchten länger.
Anton ließ die Hand auf dem Schaltknüppel ruhen. Nils wohnte in Oslo, wohingegen Karl Skarvik, zumindest nach Auskunft der Einsatzzentrale, in Fredrikstad gemeldet war. Er nahm sein Mobiltelefon zur Hand. Suchte die Bilder von Skarviks Auto heraus. Der Junge hatte gesagt, dass das Auto silbrig gewesen sei. Wie das Metallarmband an Antons Uhr. Silbrig-glänzend. Er betrachtete die verschiedenen Bilder. Zoomte sie mit den Fingern auf dem Display näher heran. Das gesamte Heck des Wagens war von einer dünnen grauen Schmutzschicht bedeckt, und sosehr er sich auch bemühte, er konnte nicht annähernd etwas Blankes erkennen. Das Kennzeichen war so gut wie unleserlich. Auf der Heckscheibe klebte der große Aufkleber mit dem karierten Muster, der ihm aufgefallen war. Dem Schriftzug
HRS Kompetenzzentrum
folgten eine Telefonnummer und eine Internetadresse. Anton wählte die Nummer. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich ein automatischer Anrufbeantworter: «Hier ist das Kompetenzzentrum Hamre und Rödelheim, unsere Öffnungszei–»
Anton legte auf. Samstags hatten sie bestimmt nicht geöffnet. HR – Hamre und Rödelheim. Das S auf dem Aufkleber musste für Skarvik
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