Kälteeinbruch (German Edition)
in der Ecke der Veranda.
«Du hast heute Abend gar nichts getrunken», stellte Anton fest.
«Nein», seufzte Ole. «Das geht nicht, solange Unni noch wach ist.»
Anton drehte sich um und sah durch eins der Wohnzimmerfenster. Unni saß bei den beiden Kindern, sie lachte munter und gestikulierte wild.
«Sieht ganz so aus, als ob sie heute Abend guter Dinge wäre?»
«Im Moment schon. Die Frage ist, was passiert, wenn die anderen weg sind. Dann ist es wichtig, dass ich zur Stelle bin.» Er zog die Nase hoch. «Ich genehmige mir lieber ein Schnäpschen, wenn sie schläft.»
Anton wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Was immer er sagte, es wäre falsch. Ein langes Schweigen war die Folge. Plötzlich deutete Ole auf die Straße, die am Haus vorbeiführte, und sagte: «Morgens hab ich ihn immer dort die Straße hinuntergehen sehen. Ich weiß noch, dass er so einen braunen Lederranzen hatte», er sah Anton an, «erinnerst du dich an die Dinger? Jahrelang waren sie modern, und in letzter Zeit bekommt man sie überhaupt nicht mehr zu Gesicht. Auf denen die Draufgänger herumgekritzelt haben, bis sie auseinandergefallen sind.»
Anton nickte. Auf dem Gymnasium hatte er selbst so einen gehabt.
«Wusstest du, dass ich ihn einmal beim Haschrauchen erwischt habe?»
«Ja», antwortete Anton. «Du hast davon erzählt.»
«Mann, was war ich wütend an dem Abend. Hätte ich gewusst, dass ich ihn ein paar Monate später verlieren würde, hätte ich ihn gewähren lassen. Hätte ihm das Teufelszeug sogar noch besorgt.» Ole zog erneut die Nase hoch.
Er hatte eine Hand auf das Geländer gelegt und blickte die Straße hinunter. Außer dem Wind, der die Büsche und Bäume im Garten zum Rascheln brachte, war nichts zu hören. Anton hatte den Kopf gesenkt, blickte jedoch immer wieder kurz zu Ole auf. Bereits bei Antons Ankunft am vergangenen Dienstag hatte er erschöpft ausgesehen, doch jetzt erweckte der Mann den Eindruck, als könnte er jeden Moment zusammenbrechen. In scharfem Kontrast zu der düsteren Stimmung auf der Veranda drang aus dem Wohnzimmer lebhaftes Stimmengewirr durch die Fenster.
«Unni hat schon vor langer Zeit die Hoffnung aufgegeben.»
«Und du?»
«Ich sehe auch allmählich ein, dass er wohl nie wieder nach Hause kommen wird.» Wieder zog er die Nase hoch.
Dieses Mal hörte es sich eher wie ein Schluchzen an.
«Hör mal», sagte Anton plötzlich. «Du hast nicht zufällig Lust, mich zu meinem Bruder zu fahren? Damit ich ihn kurz drücken und ihm fröhliche Weihnachten wünschen kann?»
Kval lebte ein wenig auf. Rieb sich das Gesicht und räusperte sich.
«Doch … kann ich machen. Wird’s dir schon langweilig?» Er lächelte.
«Nicht doch. Aber wenn du heute Abend schon kein Bier mit mir trinken kannst, soll sich das doch wenigstens gelohnt haben. Will auch nur schnell hallo sagen.»
«Feierst du Weihnachten nie mit deinem Bruder?»
«Nein. Seine Frau ist unerträglich. Der reinste Drachen.»
Kval lachte jetzt. «Echt?»
Sie gingen wieder hinein. Anton folgte Ole in die Küche, wo Unni gerade zwei Schälchen mit Vanilleeis füllte.
«Du, Unni», begann Kval, «ist es in Ordnung, wenn ich Anton kurz zu seinem Bruder fahre? Damit er ihm frohe Weihnachten wünschen kann?»
Anton trat einen Schritt vor und warf ein: «Wir sind spätestens in einer Dreiviertelstunde wieder da, ihr könnt mit dem Kuchen also ruhig auf uns warten.»
Knatternd flogen die zweiundfünfzig Karten aus Antons rechter Hand in seine linke. Er fing sie perfekt auf.
Unni kicherte. «Zeigst du wieder deine Kartentricks, Anton? Du bist echt gut. Ole hat mir von deiner Pokerleidenschaft erzählt. Du darfst aber nicht dein ganzes Geld verspielen, hörst du?»
Anton zwang sich zu einem Lächeln.
«Ist das für dich in Ordnung?», wiederholte Kval.
«Ja, natürlich.» Geschäftig eilte sie mit den Schälchen zurück ins Wohnzimmer. Stellte sie vor den Kindern auf den Boden. Anton sah sich in der Küche um. Die Schale auf der Küchenablage war inzwischen nicht mehr mit Notizen, Kugelschreibern, Sprechstundenkärtchen und allen möglichen Zetteln gefüllt, sondern mit Klementinen.
Anton nahm sich eine. Drückte sie prüfend und steckte sie in die Seitentasche seines Sakkos.
Plötzlich lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er hielt mitten in der Bewegung inne. Ihm war wieder eingefallen, woher er den Namen kannte.
Kapitel 60
Der goldene Schein des prasselnden Kaminfeuers bildete die einzige Lichtquelle im
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