Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
Mutter an einer schweren Grippe. Er steckte damals bis über beide Ohren in Arbeit und erfuhr nichts davon, denn sie wollte ihm keinesfalls zur Last fallen. Sie stand viel zu früh wieder auf, ging wieder zur Arbeit und erlitt einen Rückschlag. Als sie sich endlich bei Erlendur meldete, war sie dem Tode nahe. Das Herz war in Mitleidenschaft gezogen worden, was einen Infarkt zur Folge hatte. Erlendur brachte sie auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus, doch die Ärzte konnten nicht mehr viel tun. Sie war noch keine sechzig, als sie starb.
Erlendur schenkte sich Kaffee nach, der inzwischen längst kalt geworden war, und trank einen Schluck. Er stand auf, ging ins Wohnzimmer und holte sich diesen dritten Band aus dem Regal. Es war dasselbe Buch, das seine Mutter vor vielen Jahren in der Hand gehalten hatte. Sie hatte es dem Verfasser des Berichts zutiefst übel genommen, dass er der Familie zu nahe getreten war. Erlendur war der gleichen Meinung: In dem Bericht wurden Dinge behauptet, die nicht vor der Öffentlichkeit hätten ausgebreitet werden dürfen – selbst wenn sie wahr waren. Eva und Sindri wussten von der Existenz dieses Berichts, aber er hatte lange gezögert, ihn ihnen zu zeigen. Vielleicht wegen seines Vaters. Vielleicht wegen der Reaktion seiner Mutter.
Als Erlendur das Buch an seinen Platz zurückgestellt hatte, drängte sich ihm wieder der Gedanke an die Frau aus Grafarvogur auf. Weshalb hatte ihr Leben in einer Schlinge geendet? Was war am See von Þingvellir passiert, als ihr Vater starb? Er musste unbedingt mehr darüber in Erfahrung bringen. Das konnte er jedoch nur auf eigene Faust tun, und er musste sehr vorsichtig vorgehen, um keinen Verdacht zu wecken. Mit den Beteiligten reden und, wie bei anderen Ermittlungen, Schlüsse ziehen. Er würde die Wahrheit über die Gründe für seine Neugier etwas zurechtbiegen müssen, indem er irgendein erfundenes Projekt vorschützte; damit tat er sich nicht weiter schwer, er hatte durchaus schon das eine oder andere Mal etwas gemacht, worauf er nicht sonderlich stolz war.
Er musste mehr darüber herausfinden, warum diese Frau ein so brutales und einsames Ende an diesem See gefunden hatte, in dem ihr Vater ebenfalls dem kalten Tod ins Auge geblickt hatte.
Wichtig war auch, was in dem Buch an der Stelle stand, wo es aufgeschlagen war – der Satz über den Himmel.
Die Séance hatte María Kraft gegeben. Sie war überzeugt, dass ihre Mutter »Unterwegs zu Swann« aus dem Bücherregal gezogen und ihr damit ein Zeichen gegeben hatte. Für sie kam keine andere Erklärung dafür infrage, und das Medium, ein sehr besonnener und verständnisvoller Mann, hatte sie darin bestärkt. Er hatte ihr von ähnlichen Fällen erzählt, wo Verstorbene in irgendeiner Form Verbindung aufgenommen hatten, entweder direkt oder in Träumen, sogar in Träumen von Menschen, die nicht zu den engsten Angehörigen zählten.
María hatte dem Medium nicht gesagt, dass sie nur wenige Monate nach Leonóras Tod angefangen hatte, sehr klare Erscheinungen zu sehen, vor denen sie sich trotz ihrer Angst vor der Dunkelheit nicht fürchtete. Leonóra erschien ihr in der Tür zum Schlafzimmer, auf dem Flur vor den Zimmern, oder sie setzte sich zu ihr aufs Bett. Wenn María ins Wohnzimmer ging, sah sie manchmal Leonóra vor dem Bücherschrank stehen oder auf ihrem Stuhl in der Küche sitzen. Sie erschien ihr sogar außerhalb des Hauses, ein schwaches Spiegelbild in einem Schaufenster oder ein Gesicht, das in der Menschenmenge untertauchte.
Zunächst hielten diese Erscheinungen nicht lange an, einen kurzen Augenblick vielleicht, doch dann wurden sie nachhaltiger, und Leonóras Präsenz wurde immer stärker. Genauso hatte María es erlebt, als ihr Vater starb. Sie hatte sich intensiv mit der einschlägigen Literatur über derartige Phänomene bei der Trauerbewältigung beschäftigt und wusste, dass solche Erscheinungen mit dem Verlust und mit Schuldgefühlen und anhaltenden Angstpsychosen einhergehen konnten. Genauso wusste sie, dass sie in ihrem eigenen Unterbewusstsein, von ihrem inneren Auge, hervorgerufen wurden. Sie war eine vernünftige und gebildete Frau und glaubte nicht an Gespenster.
Trotzdem wollte sie nichts von vornherein ausschließen. Sie war sich aber nicht mehr sicher, ob die Wissenschaft Antworten auf sämtliche existenziellen Fragen des Menschen bereithielt.
Je mehr Zeit verstrich, desto mehr wurde María in ihrem Glauben bestärkt, dass ihre Wahrnehmungen etwas anderes und
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