Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
komplett gelogen. Eine solche Erhebung fand tatsächlich statt, aber im Auftrag der Sozialbehörden, und die Polizei trug höchstens mit allgemeinen Informationen dazu bei. Das Ziel war, die Wurzel des Übels zu erfassen, wie es in der einleitenden Bemerkungen von schwedischer Seite hieß, nämlich die Hintergründe von Selbstmorden zu untersuchen und nicht zuletzt auch, wie sie sich auf Altersgruppen, Geschlecht und gesellschaftliche Stellung verteilten und was ihnen gemeinsam war, falls sich diesbezüglich Gemeinsamkeiten herausstellen sollten.
Das alles ging Erlendur ziemlich mühelos über die Lippen, und Ingvar lauschte interessiert. Er war über sechzig, ein alter Freund der Familie, vor allem von Marías Vater Magnús. Auf Erlendur machte er den Eindruck eines trägen und behäbigen Mannes. Die Nachricht von Marías Tod hatte ihn selbstverständlich tief getroffen. Bei ihrer Beerdigung war er dabei gewesen und hatte sie ergreifend gefunden. Für ihn war es aber unverständlich, weshalb sie sich zu einer derartigen Verzweiflungstat gezwungen gesehen hatte.
»Sie hatte natürlich ihre Probleme.«
Erlendur nippte an dem Kaffee, den der Mann ihm angeboten hatte.
»Soweit ich weiß, hat sie sehr unter dem Tod ihres Vaters gelitten«, sagte er und stellte die Tasse ab.
»Das hat sie«, sagte Ingvar, »wirklich furchtbar. Kein Kind sollte so etwas miterleben müssen. Sie war dabei.«
Erlendur nickte zustimmend.
»Magnús und Leonóra hatten das Haus in Þingvellir kurz nach ihrer Hochzeit gekauft«, fuhr Ingvar fort. »Meine verstorbene Frau und ich waren dort häufig übers Wochenende eingeladen. Magnús fuhr sehr viel mit seinem Boot auf den See hinaus, er war nämlich ein passionierter Angler und konnte sich tagelang damit vergnügen. Manchmal bin ich mit ihm gefahren. Er versuchte auch, das Interesse der kleinen María dafür zu wecken, aber sie mochte nicht mit ihm angeln gehen. Das Gleiche galt für Leonóra. Sie hat nie etwas dafür übriggehabt.«
»Die beiden waren also nicht mit in dem Boot?«
»Nein, auf keinen Fall. Magnús war allein. Das muss doch auch in dem Polizeiprotokoll stehen. Damals gab es das kaum, dass man Rettungswesten trug oder welche an Bord hatte. Magnús hatte so etwas jedenfalls nicht dabei, wenn er auf den See hinausfuhr. Zwar gehörten zwei Rettungswesten zu dem Boot, aber Magnús sagte immer, so etwas brauche er nicht, und bewahrte sie im Bootsschuppen auf. Meist ist er auch gar nicht sehr weit hinausgefahren und mehr in der Nähe des Ufers geblieben.«
»Aber bei diesem letzten Mal fuhr er weiter hinaus?«
»So war es wohl, wenn ich es richtig verstanden habe. An dem Tag war es ungewöhnlich kalt, es war Herbst.«
Ingvar schwieg eine Weile.
»Ich habe da einen meiner besten Freunde verloren«, sagte er in Gedanken versunken.
»Das nimmt einen mit«, sagte Erlendur.
»Sein Boot hatte einen Außenbordmotor, und laut dem, was die Polizei sagte, muss sich die Schraube gelöst haben, dadurch war das Boot manövrierunfähig und kam zum Stillstand. Magnús hatte keine Ruder an Bord, und als er nachsehen wollte, was mit dem Motor los war, fiel er über Bord. Er war nicht der Schlankste und rauchte viel, und bewegt hat er sich kaum. Das alles hat es wahrscheinlich nicht besser gemacht. Leonóra sagte, dass der Wind stark aufgefrischt hatte; da zieht sich nämlich so ein Windkanal von Skjaldbreiður her über den See. Deswegen war ein ganz schöner Wellengang, und Magnús ist wohl ziemlich bald ertrunken. Der See von Þingvellir ist zu dieser Jahreszeit so kalt, dass man darin höchstens ein paar Minuten überlebt.«
»Ja, das stimmt«, sagte Erlendur.
»Leonóra hat gesagt, das Boot sei kaum mehr als hundertfünfzig Meter vom Land entfernt gewesen. Mutter und Tochter haben nicht beobachtet, wie er über Bord gefallen ist, aber sie haben ihn im Wasser gesehen und seine Schreie gehört, die dann wohl sehr bald verstummten.«
Erlendur sah zum Wohnzimmerfenster hinaus. Die Lichter der Stadt glitzerten im Regen. Der Lärm des stärker werdenden Verkehrs drang bis zu ihnen ins Zimmer.
»Sein Tod hatte natürlich enorme Auswirkungen auf das Leben von Leonóra und ihrer Tochter«, sagte Ingvar. »Leonóra hat nie wieder geheiratet, und sie und María lebten seitdem stets unter einem Dach, auch nachdem María geheiratet hatte. Ihr Mann, dieser Arzt, ist bei ihnen eingezogen.«
»Weißt du etwas darüber, ob die beiden Frauen gläubig waren?«
»Ich weiß, dass Leonóra nach dem,
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