Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi

Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi

Titel: Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
Vom Netzwerk:
gerade angehört hatte, niemandem von Nutzen waren. Genauso sicher war er sich aber auch, dass die Frau selbst an das glaubte, was sie sagte, dass das, was sie erlebt hatte, in ihrer eigenen Wirklichkeit stattgefunden hatte.
    Endlich wurde das Schweigen durchbrochen.
    »Nachdem meine Mutter gestorben war, saß ich unentwegt im Wohnzimmer, starrte auf die Bücher von Proust und traute mich nicht, die Augen von ihnen abzuwenden, aber nichts geschah. Tag für Tag saß ich nur da und beobachtete den Bücherschrank. Ich schlief sogar bei den Büchern. Wochen vergingen, Monate. Wenn ich morgens aufwachte, habe ich als Erstes nach den Büchern geschaut, und das Letzte, was ich abends tat, war zu kontrollieren, ob sich irgendetwas ereignet hatte. Nach und nach begriff ich, dass das zu nichts führte. Je mehr ich darüber nachdachte und auf die Bücherregale starrte, desto klarer wurde mir, warum nichts geschah.«
    »Warum? Was hast du herausgefunden?«
    »Mir ging das nach und nach auf, und ich war unendlich dankbar. Meine Mutter half mir in meiner Trauer. Sie hatte es so eingerichtet, dass ich mich nach ihrem Tod auf etwas konzentrieren musste. Sie wusste, dass ich untröstlich sein würde, gleichgültig, was sie sagte. Sie hat mich gut auf ihren Tod vorbereitet; wir führten lange Gespräche, bis sie schließlich nicht mehr die Kraft hatte zu sprechen. Wir sprachen über den Tod und darüber, dass sie mir ein Zeichen senden würde. Aber natürlich geschah gar nichts, außer dass sie mir den Prozess des Trauerns erleichterte.«
    Schweigen.
    »Ich weiß nicht, ob du mich verstehst.«
    »Doch, sprich ruhig weiter.«
    »Dann geschah es neulich, fast zwei Jahre nach ihrem Tod. Ich hatte aufgehört, ständig die Bücherregale und Marcel Proust im Auge zu behalten. Eines Morgens wachte ich auf, warf die Kaffeemaschine an und holte die Zeitung. Als ich wieder in die Küche zurückging, warf ich zufällig einen Blick ins Wohnzimmer und …«
    In dem Schweigen, das den Worten der Frau folgte, hörte man das Rauschen des Aufnahmegeräts.
    »Was?«, flüsterte das Medium.
    »Es lag aufgeschlagen auf dem Fußboden.«
    »Was?«
    »Das Buch. Unterwegs zu Swann von Marcel Proust. Der erste Band des Zyklus.«
    Wieder langes Schweigen.
    »Deswegen bist du also zu mir gekommen?«
    »Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?«
    »Ja«, hörte Erlendur das Medium flüstern. »Das tue ich. Ich glaube an ein Leben nach dem Tod.«

Acht
    Als Erlendur früh am nächsten Morgen erwachte, musste er wieder an den alten Mann denken, der ihn im Dezernat besucht hatte, um noch einmal nach seinem Sohn zu fragen, fast dreißig Jahre nach dessen Verschwinden. Das war einer seiner ersten Fälle gewesen, und für Erlendur war er immer noch offen, obwohl er offiziell zu den Akten gelegt worden war. Damals befand sich das Hauptdezernat der Kriminalpolizei noch in einem Gewerbegebiet in Kópavogur. Er erinnerte sich auch an zwei andere Vermisstenfälle aus der gleichen Zeit, die er zwar nicht selbst bearbeitet hatte, aber gut kannte. Der eine davon hatte sich einige Wochen vorher ereignet: Ein junger Mann war auf einer Fete in Keflavík gewesen, von wo aus er mitten in der Nacht zu Fuß nach Hause gehen wollte. Er lebte in Njarðvík, weniger als zwei Kilometer entfernt, aber er kam nie an. Das war mitten im Winter, und in der Nacht war urplötzlich ein Schneesturm losgebrochen. Eine Suchaktion wurde in die Wege geleitet, und nach drei Tagen fand man einen Schuh am Meeresufer. Er war zwar in die richtige Richtung losgelaufen, dann aber offensichtlich durch den Sturm in Richtung Meer abgedrängt worden. Seitdem hatte man nie wieder etwas von ihm gehört. Nach Aussagen der anderen Gäste war er ziemlich betrunken gewesen und hatte die Party ohne Jacke und nur in Hemd und Hose verlassen.
    Bei dem anderen Fall handelte es sich um ein junges Mädchen aus Akureyri. Sie studierte an der Universität und lebte in Reykjavík in einer kleinen Mietwohnung. Der genaue Zeitpunkt des Verschwindens war in ihrem Fall nicht festzustellen. Als die Miete einen Monat überfällig war, machte der Vermieter sich persönlich auf den Weg zu der Wohnung, doch dort war niemand. In der Universität hatte man sie nicht vermisst, denn es gab keine Anwesenheitspflicht. Außerdem saß sie gerade an einem größeren Referat in Biologie. Sie war Einzelkind, und ihre Eltern befanden sich auf einer zweimonatigen Reise durch Asien und meldeten sich nur in sehr unregelmäßigen Abständen. Als die

Weitere Kostenlose Bücher