Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
wisse, was sie tue.
Erlendur hatte den Kaffee längst ausgetrunken, saß aber immer noch am Küchentisch, ohne zu wissen, weshalb er so ins Grübeln geraten war. Ihm fiel auf einmal seine Mutter ein, die nach dem Tod seines Vaters in eine Kellerwohnung gezogen war. Tüchtig und unermüdlich, wie sie immer gewesen war, hatte sie in einer Fischfabrik gearbeitet. Erlendur hatte sie regelmäßig besucht und manchmal seine Wäsche zu ihr gebracht. Bei solchen Besuchen kochte sie für ihn, und anschließend hörten sie gemeinsam Radio, oder er las ihr etwas vor, während sich seine Mutter mit Handarbeiten beschäftigte und vielleicht einen Schal strickte, der für ihn gedacht war. Sie brauchten nicht viel miteinander zu reden, ihnen genügten die gegenseitige Nähe und das Schweigen.
Sie war noch keine fünfzig gewesen, als sein Vater starb, aber einen anderen Mann in ihrem Leben hatte es nie gegeben. Es machte ihr nichts aus, allein zu leben. Sie hatte Verbindung zu Verwandten und Freunden in Ostisland und auch zu Leuten aus der Region, die wie sie nach Reykjavík gezogen waren. Island erlebte große Umwälzungen, die Leute strömten vom Land in die Stadt. Sie fühlte sich nie allein in der Stadt, hatte sie Erlendur gesagt. Trotzdem kaufte er einen Fernseher für sie. Sie lebte sehr selbstgenügsam und bat Erlendur nur ganz selten einmal, etwas für sie zu erledigen.
Über seinen Bruder Bergur, der so plötzlich und unerwartet aus ihrer Welt verschwunden war, redeten sie so gut wie nie. Es konnte vorkommen, dass sie ganz allgemein etwas über den Jungen sagte oder über die beiden Brüder, aber den Verlust des Sohnes brachte sie nie zur Sprache. Das ging nur sie etwas an, und Erlendur respektierte ihr Schweigen.
»Dein Vater hätte es gern gewusst, bevor er starb«, hatte sie einmal zu ihm gesagt, als er bei ihr zu Besuch gewesen war. Sie hatten fast den ganzen Abend schweigend im Wohnzimmer verbracht. Er besuchte seine Mutter immer an dem Tag, an dem es passiert war, dem Tag, als er und sein jüngerer Bruder zusammen mit dem Vater von einem Unwetter überrascht worden waren.
»Ja«, hatte Erlendur geantwortet. Er wusste, worauf seine Mutter anspielte.
»Glaubst du, dass wir es irgendwann einmal erfahren werden?«, fragte sie und blickte von dem Buch hoch, das er ihr mitgebracht hatte. Spät am Abend hatte er sich endlich dazu aufraffen können, ihr das Buch zu überreichen, war sich jedoch keineswegs sicher, ob er das Richtige tat.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Erlendur. »Es ist sehr lange her.«
Dann las sie weiter.
»Was für ein müßiges Geschwätz«, sagte sie und sah wieder hoch.
»Ich weiß«, sagte Erlendur.
»Was geht die Leute das an, was zwischen mir und deinem Vater war? Wen geht das etwas an?«
Erlendur schwieg.
»Ich möchte nicht, dass irgendjemand das liest«, fuhr seine Mutter fort.
»Darauf haben wir natürlich keinerlei Einfluss«, erwiderte er.
»Und das, was er da über dich sagt.«
»Das berührt mich nicht.«
»Ist das Buch gerade herausgekommen?«
»Ja, das ist der dritte Band in der Reihe. Der letzte. Er ist kurz vor Weihnachten erschienen. Kennst du den Mann, der das geschrieben hat, diesen Dagbjartur?«
»Nein«, sagte sie. »Aber er muss mit den Leuten in unserer Gegend geredet haben.«
»Ja, den Eindruck habe ich auch. Er ist ziemlich präzise in seinen Angaben, und das meiste, was er sagt, stimmt.«
»So etwas wie das über deinen Vater und mich darf er einfach nicht sagen.«
»Natürlich nicht.«
»Es ist nicht fair ihm gegenüber.«
»Nein, ich weiß.«
»Woher hat der Mann das?«
»Ich weiß es nicht.«
Seine Mutter klappte das Buch zu. »Das ist dummes Geschwätz. Ich möchte nicht, dass irgendjemand das liest«, wiederholte sie.
»Nein«, sagte er.
»Kein einziger Mensch«, sagte sie und reichte ihm das Buch. Er sah, dass sie mit den Tränen kämpfte.
»Als ob er die Schuld daran trüge. Als ob irgendjemand die Schuld daran trüge. Was für ein Unsinn!«
Er nahm das Buch entgegen. Vielleicht hätte er es ihr nicht zeigen oder sie zumindest besser auf die Tragödie in den Bergen von Eskifjörður vorbereiten sollen, wie der Abschnitt in dem Buch hieß. Er hatte nicht vor, diesen Bericht irgendjemandem zu zeigen. Was seine Mutter gesagt hatte, war völlig richtig: Das, was da stand, durfte möglichst niemand zu Gesicht bekommen.
Im gleichen Winter, in dem das Buch mit dem Bericht über diese furchtbaren Ereignisse herausgekommen war, erkrankte seine
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