Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
mehr waren als psychische Täuschungen oder Illusionen, die durch ihre seelische Verfassung, durch Depressionen und die schwierige Situation hervorgerufen wurden. Zeitweilig waren sie so real, dass sie davon überzeugt war, sie müssten aus einer anderen Welt kommen, was auch immer die Naturwissenschaften behaupteten. Nach und nach begann sie zu glauben, dass eine solche Welt existieren konnte. Sie vertiefte sich aufs Neue in die Berichte über Nahtoderfahrungen, die Leonóra auf ihren Wunsch hin gelesen hatte, über Todesnähe und ein goldenes Licht und die Liebe, die damit verbunden war, und ein göttliches Wesen in diesem Licht, über die Schwerelosigkeit in dem dunklen Tunnel, der zum Licht führte. Sie hatte allerdings in ihrer Bedrängnis nie bei anderen Hilfe gesucht, sondern selbst versucht, ihren psychischen Zustand mit der ihr angeborenen Logik und Vernunft zu analysieren.
Auf diese Weise vergingen fast zwei Jahre. Mit der Zeit wurden Marías Wahrnehmungen seltener, und sie hörte auch auf, unverwandt auf die Werke von Proust zu starren. Ihr Leben kam langsam wieder ins Gleichgewicht, obwohl ihr klar war, dass es nie wieder so werden würde wie zu Lebzeiten ihrer Mutter. Eines Morgens wachte sie früh auf und warf aus alter Gewohnheit einen Blick auf das bewusste Bücherregal.
Alles war unverändert.
Oder?
Sie sah noch einmal hin.
Ihr schwindelte, als sie sah, dass der erste Band fehlte. Langsam und vorsichtig trat sie näher und sah, dass »Unterwegs zu Swann« auf dem Fußboden lag.
Sie traute sich nicht, das Buch zu berühren, sondern bückte sich, starrte auf die aufgeschlagene Seite und las:
Auch wenn die Wälder schwarz wurden,
der Himmel scheint immer blau …
Neun
Sigurður Óli erschien hustend in seinem Büro und putzte sich mit einem Tempotaschentuch bemüht leise die Nase. Er hatte es nicht länger zu Hause ausgehalten, obwohl die verdammte Grippe ihm noch in den Knochen steckte. Trotz des kühlen Herbstwetters trug er einen neuen, hellen Sommermantel und war in aller Herrgottsfrühe ins Fitnessstudio und anschließend zum Friseur gegangen. Als er Erlendur begegnete, sah er trotz gerade überstandener Krankheit daher keineswegs angeschlagen, sondern tipptopp aus wie immer.
»Ist nicht alles honky dory ?«, fragte er.
»Wie geht es dir?«, fragte Erlendur zurück und überhörte diesen dämlichen Ausdruck, mit dem Sigurður Óli ihn ärgern wollte.
»So einigermaßen. Ist was los?«
»Das Übliche. Wirst du wieder zu ihr ziehen?«
Dieselbe Frage hatte Erlendur Sigurður Óli gestellt, bevor die Grippe ihn umgeworfen hatte. Erlendur mochte Sigurður Ólis Frau Bergþóra und bedauerte es, wie es um die Beziehung zwischen den beiden stand. Über die Gründe für die Trennung hatten sie einmal gesprochen, und Erlendur war es so vorgekommen, als sei die Lage noch nicht aussichtslos. Die Frage nach dem Zusammenziehen hatte ihm Sigurður Óli allerdings damals genauso wenig wie jetzt beantwortet, denn er fand Erlendurs Einmischung unerträglich.
»Ich hab gehört, dass du dich mal wieder in diese alten Vermisstenfälle vergräbst«, sagte er, ging weiter und bog um die nächste Ecke.
Es war weniger zu tun als normalerweise, und Erlendur hatte wieder die Akten der drei Vermisstenfälle hervorgeholt, die vor über dreißig Jahren so kurz nacheinander passiert waren. Sie lagen vor ihm auf dem Tisch. Er erinnerte sich gut an die Eltern des Mädchens. Zwei Monate nachdem sie das Verschwinden des Mädchens bekannt gegeben hatten, traf Erlendur sich mit ihnen. Die Suche war bislang erfolglos verlaufen. Sie waren von Akureyri gekommen und wohnten im Haus von Freunden in Reykjavík, die nicht zu Hause waren. Erlendur sah ihnen an, dass sie seit dem Verschwinden ihrer Tochter Höllenqualen durchlitten hatten. Die Frau sah elend und müde aus, und der Mann war unrasiert und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie hielten sich an den Händen. Er wusste, dass beide in psychiatrischer Behandlung waren. Sie gaben sich die Schuld an dem, was passiert war; sie hatten diese lange Reise unternommen und sich nur ganz sporadisch bei der Tochter gemeldet. Die Reise war ein alter Traum der Eheleute gewesen. Sie hatten schon immer davon geträumt, den Fernen Osten zu bereisen, Japan und China und sogar die Mongolei. Von einem Hotel in Peking aus hatten sie zuletzt mit ihrer Tochter telefoniert. Sie hatten das Gespräch anmelden müssen, und die Verbindung war schlecht gewesen. Dem Mädchen ging es gut, sie
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