Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
Schwester an.
»Nach vorn! So’n Quatsch!«
»Und hast du diese Idee ganz bis zu Ende gedacht, Eva?«, fragte Erlendur. »Inklusive, wo wir uns treffen sollen? Will sie hierherkommen? Soll ich zu ihr nach Hause gehen? Sollen wir uns auf neutralem Boden treffen?« Erlendur blickte Eva an und überlegte, weshalb er auf einmal Begriffe aus dem Kalten Krieg verwendete, wenn er über seine frühere Frau sprach.
»Auf neutralem Boden!«, fauchte Eva Lind. »Was glaubst du eigentlich, wie das ist, es mit euch beiden zu tun zu haben? Ihr habt doch alle beide einen an der Waffel.«
Sie sprang auf. »Für dich ist das Ganze wohl bloß ein schlechter Witz. Ich und Sindri und Mama, wir sind bloß ein schlechter Witz.«
»Ganz und gar nicht, Eva«, sagte Erlendur. »Das habe ich überhaupt nicht …«
»Du hast uns nie ernst genommen!«, fiel ihm Eva Lind ins Wort. »Du hast dich nie für das interessiert, was wir vielleicht zu sagen hätten!«
Im nächsten Augenblick war sie zur Tür hinaus, die sie so heftig zuschlug, dass es im ganzen Haus widerhallte.
»Was … Was ist denn eigentlich los?«, fragte Erlendur und sah seinen Sohn an.
Sindri zuckte mit den Achseln. »So ist sie jetzt schon die ganze Zeit, seit sie clean ist, unheimlich aggressiv. Man darf kein Wörtchen sagen, sonst rastet sie total aus.«
»Seit wann ist sie so fixiert darauf, dass deine Mutter und ich uns treffen sollen?«
»Geredet hat sie schon immer darüber«, erklärte Sindri. »Solange ich zurückdenken kann. Sie glaubt … Ach, ich weiß nicht, Eva kann so unglaublichen Quatsch von sich geben.«
»Bei mir hat sie nie Quatsch von sich gegeben«, sagte Erlendur. »Was glaubt sie?«
»Sie sagt, dass es ihr vielleicht helfen kann.«
»Was? Was könnte ihr helfen?«
»Wenn du und Mama … Wenn das Verhältnis zwischen euch nicht ganz so schlecht wäre.«
Erlendur starrte seinen Sohn an.
»Hat sie das wirklich gesagt?«
»Ja.«
»Könnte ihr das helfen, ihr Leben in den Griff zu bekommen?«
»Irgendwas in der Art.«
»Falls deine Mutter und ich versuchen würden, uns auszusöhnen?«
»Sie will bloß, dass ihr miteinander redet«, sagte Sindri und drückte die Zigarette aus, die er ganz bis zum Filter geraucht hatte. »Was ist daran so kompliziert?«
Erlendur lag nach diesem Besuch wach im Bett und dachte an ein Haus im Osten Islands, wo es angeblich früher einmal gespukt hatte. Es war ein zweistöckiges Holzhaus, das ein dänischer Handelsherr Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte errichten lassen. In den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts waren Leute aus Reykjavík dort eingezogen, und kurze Zeit später begannen Geschichten zu kursieren, dass die Frau des Hauses ständig Kinderweinen zu hören glaubte, das aus der Holzvertäfelung im Wohnzimmer drang. Nie zuvor war irgendetwas Ungewöhnliches in diesem Haus bemerkt worden, und das Weinen hörte einzig und allein diese Frau, wenn außer ihr niemand im Haus war. Der Ehemann war davon überzeugt, dass es sich um Katzengejaule handelte, aber die Frau stritt das rundherum ab. Sie fürchtete sich vor Dunkelheit und Gespenstern, sie litt unter Albträumen und fühlte sich in dem Haus überaus unwohl. Zum Schluss hielt sie es nicht mehr aus und brachte ihren Mann dazu, die Gegend zu verlassen. Nach nur drei Jahren an dem Ort zogen sie wieder zurück nach Reykjavík. Das Haus wurde an andere Leute verkauft, die nie irgendetwas bemerkten.
Kurz nach der Mitte des Jahrhunderts begann jemand, sich für die Geschichte mit dem Kinderweinen und der Hausfrau aus Reykjavík zu interessieren, und er befasste sich mit der Vorgeschichte des Hauses. Verschiedene Familien hatten darin gewohnt. Nachdem der dänische Handelsherr es verkauft hatte, wohnten sogar drei Familien dort unter einem Dach, doch niemals war die Rede von Kinderweinen gewesen. Der Mann verfolgte die Geschichte des Hauses noch weiter zurück, um herauszufinden, ob es irgendeinen besonderen Vorfall mit einem Kind gegeben hatte. Es stellte sich heraus, dass der dänische Kaufmann, der es hatte errichten lassen, drei Töchter gehabt hatte, die alle sehr alt geworden waren. Die Bediensteten des Hauses waren kinderlos gewesen. Als er sich aber mit der Baugeschichte des Hauses befasste, fand er heraus, dass es zwei Zimmermeister hintereinander gegeben hatte. Der Erste, der mitten im Bau aufgehört hatte, hatte eine zweijährige Tochter gehabt. Sie starb infolge eines Unfalls auf der Baustelle, genau dort, wo das Wohnzimmer
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