Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
von ihm war, Medizin zu studieren. Aber er und María hielten immer noch Kontakt zu diesen flippigen Theaterleuten. Bei denen war immer etwas los. Orri Fjeldsted beispielsweise gehörte dazu, der ist ja inzwischen einer von unseren großen Schauspielern. Lilja und Sæbjörn, die haben dann geheiratet. Einar Vífill, alle wurden sie Stars. Na, wie dem auch sei, Baldvin verlegte sich auf Medizin. Er hat zwar noch ein bisschen weitergespielt, aber irgendwann ganz damit aufgehört.«
»Weißt du, ob er das bereut hat?«
»Nein, davon ist mir nichts bekannt. Aber er interessiert sich sehr fürs Theater. Die beiden sind viel ins Theater gegangen, sie kannten sich in dem Metier gut aus, und sie hatten ja auch Freunde beim Theater.«
»Weißt du etwas darüber, wie das Verhältnis zwischen Baldvin und Leonóra war?«
»Er ist zu María gezogen, aber in dem Haus lebte auch Leonóra, und sie war eine starke Persönlichkeit. María hat manchmal darüber gesprochen, dass ihre Mutter sich zu viel bei ihnen einmischte, was Baldvin wohl manchmal genervt hat.«
»Woran war María in Geschichte besonders interessiert?«
»Für sie gab es nichts anderes als das Mittelalter, für mich war das aber das Langweiligste überhaupt. Sie befasste sich mit Blutschande und mit Fällen, in denen man die Geburt eines Kindes zu verheimlichen versucht hatte, und den entsprechenden Urteilen und Strafen. Ihre Abschlussarbeit handelte von diesen verurteilten Frauen, die in dem Loch ertränkt wurden. Sehr interessant, ich habe Korrektur gelesen.«
»In dem Loch?«
»Ja«, sagte Þorgerður, »dieses Wasserloch da in Þingvellir, in dem die Frauen ertränkt wurden und all das.«
Erlendur schwieg. Die beiden saßen in einem der Aufenthaltsräume des Krankenhauses, in dem Þorgerður arbeitete. Eine alte Frau, die sich auf ein Gehgestell stützte, schleppte sich an ihnen vorbei. Ein Krankenpfleger in weißen Clogs eilte den Korridor entlang. Ganz in der Nähe stand eine Gruppe Assistenzärzte, die über etwas beratschlagten.
»Insofern passt es natürlich«, sagte Þorgerður.
»Was passt?«, fragte Erlendur.
»Ach, ich habe gehört, dass sie … dass sie sich erhängt hat. In dem Ferienhaus da am See.«
Erlendur sah sie an, ohne etwas zu sagen.
»Aber natürlich geht einen das gar nichts an«, sagte Þorgerður etwas verlegen, als keine Reaktion kam.
»Weißt du, ob sie irgendein spezielles Interesse an übernatürlichen Dingen gehabt hat?«, fragte Erlendur.
»Nein, aber sie fürchtete sich im Dunkeln. Das war schon so, als ich sie kennenlernte. Sie konnte beispielsweise nie allein nach Hause gehen, wenn wir im Kino waren. Immer musste jemand sie begleiten. Trotzdem hat sie sich die schlimmsten Horrorfilme angeschaut.«
»Weißt du, warum sie so eine Angst vor der Dunkelheit hatte? Hat sie je darüber gesprochen?«
»Ich …« Þorgerður zögerte. Sie blickte auf den Korridor hinaus, als wolle sie sich vergewissern, dass niemand lauschte. Die alte Frau mit dem Gehgestell war am Ende des Gangs angekommen. Dort stand sie nun und schien nicht zu wissen, was sie mit sich anfangen sollte, als wüsste sie auf einmal nicht mehr, wozu sie sich mit diesem Gestell durch den langen Korridor hierher geschleppt hatte. Irgendwo in der Ferne hörte man einen alten Schlager aus einem Radio: Seemann, deine Heimat …
»Was wolltest du sagen?«, fragte Erlendur und beugte sich vor.
»Ich finde, als habe sie nicht … Es hatte etwas mit diesem Unglück damals am See von Þingvellir zu tun, als ihr Vater starb.«
»Was?«
»Ich habe so ein Gefühl, dass da irgendetwas passiert ist, als sie klein war. María konnte manchmal furchtbar deprimiert sein, aber zwischendurch war sie dann auch wieder richtig aufgekratzt. Sie hat nie darüber geredet, ob sie irgendwelche Medikamente nahm, aber mir kamen ihre Stimmungsschwankungen manchmal etwas verdächtig vor. Irgendwann einmal, das ist aber schon sehr lange her, war sie völlig niedergeschlagen; da war ich bei ihr in Grafarvogur zu Besuch, und sie fing an, über den See zu sprechen. Damals hörte ich die Geschichte zum ersten Mal, denn bis dahin hatte sie mir noch nie davon erzählt, und mir kam es gleich so vor, als litte sie wegen dem, was damals passiert ist, unter Schuldgefühlen.«
»Weshalb sollte sie Schuldgefühle gehabt haben?«
»Ich habe später versucht, mit ihr darüber zu reden, aber sie hat sich nie wieder so geöffnet wie beim ersten Mal. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie auf der
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