Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
ich nicht, als ich sie vor einigen Jahren traf. Sie hatte gar nichts vergessen.«
»Aber jetzt will sie dich treffen?«
»Ja, es hat den Anschein.«
»Vielleicht ist das ein Anzeichen dafür, dass sie versöhnlicher gestimmt ist.«
»Vielleicht.«
»Und Eva findet es wichtig.«
»Das ist es ja. Sie setzt mich ziemlich unter Druck, aber …«
»Aber was?«
»Ach, nichts«, sagte Erlendur. »Höchstens …«
»Ja?«
»Den Gedanken daran, so etwas wie eine Bilanz zu ziehen, finde ich unerträglich.«
Der Werkmeister rief nach Gilbert. Der stand in seinem blauen Kälteschutzoverall unten in einer ungeheuer tiefen und großen Baugrube und rauchte. Der Werkmeister erklärte Erlendur, hier würde ein Wohnblock mit acht Etagen und einer Tiefgarage entstehen. Er verlangte keine Erklärung, weshalb Erlendur Gilbert sprechen wollte. Der starrte eine Weile zu den beiden am Rand der Baugrube hoch, bevor er seine Zigarette fallen ließ und die lange Leiter hochkletterte, die aus der Ausschachtung nach oben führte. Dafür brauchte er seine Zeit. Der Werkmeister verschwand. Erlendur befand sich in der neuen Siedlung auf den Hügeln am Elliðavatn-See. So weit das Auge reichte, ragten riesige gelbe Kräne in den durch und durch grauen Spätnachmittagshimmel, sie wirkten wie überdimensionale eckige Klammern und erweckten den Anschein, als seien sie vom Gott der Bauwut in die Erde gerammt worden. Von irgendwoher hörte man das Dröhnen eines Betonmischers und aus einer anderen Richtung das laute Fiepen eines zurücksetzenden Lieferwagens.
Erlendur reichte Gilbert die Hand, und als er sich vorstellte, war Gilbert mehr als erstaunt. Erlendur fragte, ob sie sich irgendwo zusammensetzen könnten, wo sie nicht durch diesen Krach gestört würden. Gilbert sah ihn an und wies mit einem Kopfnicken in Richtung eines grün gestrichenen Schuppens. Dort hatte das Bauunternehmen eine provisorische Kantine eingerichtet.
Gilbert schälte sich aus dem Oberteil des blauen Overalls, als sie in dem brüllend heißen Schuppen Platz genommen hatten.
»Ich kann es kaum glauben, dass du nach all dieser Zeit nach Davið fragst«, sagte er. »Hat sich da etwas Neues ergeben?«
»Nein, das nicht«, erwiderte Erlendur. »Ich war nur seinerzeit mit dem Fall befasst, und irgendwie …«
»Ist er noch nicht vom Tisch, oder was?«, brachte Gilbert den Satz zu Ende.
Er war ein großer, schlaksiger Mann um die fünfzig, wirkte aber älter, denn er ging sehr gebückt, so als hätte er sich angewöhnt, Kollisionen mit Türen und niedrigen Decken zu vermeiden. Seine Arme waren lang, genau wie der Rumpf, und die Augen lagen tief in dem schmalen Gesicht. Er hatte sich in den letzten Tagen nicht rasiert, und es knisterte regelrecht, als er sich über die grauen Stoppeln strich.
Erlendur nickte zustimmend.
»Ich war damals gerade nach Dänemark gefahren, als er verschwand«, sagte Gilbert. »Ich habe erst viel später davon erfahren, und es hat mich richtig geschockt. Furchtbar, dass er nie gefunden wurde.«
»Ja«, sagte Erlendur. »Man hat seinerzeit versucht, dich zu kontaktieren, aber das klappte nicht.«
»Sind seine Eltern noch am Leben?«
»Nur noch sein Vater, und der ist alt und krank.«
»Tust du das für ihn?«
»Eigentlich für niemanden«, sagte Erlendur. »Es hat sich bloß neulich herausgestellt, dass du der einzige von Daviðs Freunden bist, mit dem wir nie gesprochen haben.«
»Eigentlich wollte ich nur ein Jahr in Dänemark bleiben«, sagte Gilbert, während er sich eine neue Zigarette aus dem Overall angelte. Seine Bewegungen waren ruhig und entspannt. Er fand sein Feuerzeug in einer anderen Tasche und trommelte dann leicht mit der Zigarette auf dem Tisch. »Und daraus wurden zwanzig Jahre. So ist das Leben.«
»Soweit ich weiß, hast du kurz vor deiner Abreise mit Davið gesprochen.«
»Ja, wir waren ständig in Kontakt. Hast du mit Þorsteinn gesprochen?«
»Ja.«
»Den sehe ich höchstens auf irgendwelchen Ehemaligentreffen. Ansonsten habe ich so gut wie keine Verbindung mehr zu denen, die ich damals kannte.«
»Du hast Þorsteinn erzählt, dass Davið seinerzeit möglicherweise ein Mädchen kennengelernt hatte, wir konnten das damals bei den Ermittlungen aber nicht verifizieren. Ich hätte gern gewusst, ob du mir sagen kannst, ob und wo ich sie erreichen kann.«
»Þorsteinn fiel damals aus allen Wolken. Dabei war ich davon ausgegangen, dass er mehr wusste als ich«, sagte Gilbert und zündete sich nun die Zigarette
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