Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
sieht es mit dem Fall aus?«
»Gar nichts sieht irgendwie aus«, entgegnete Erlendur. »Es gibt keinen Fall.«
»Es ist sehr unangenehm, wenn einem zu Ohren kommt, dass die Leute darüber reden«, sagte Baldvin.
»Selbstverständlich«, pflichtete Erlendur ihm bei.
»Es ist ohnehin schon schwierig genug«, sagte Baldvin.
»Ja«, sagte Erlendur. »Ich habe gehört, die Beerdigung sei schön gewesen.«
»Die Pastorin hat eine gute Ansprache gehalten. Die beiden kannten sich. Viele haben an der Trauerfeier teilgenommen. María war sehr beliebt.«
»Du hast sie einäschern lassen?«
Baldvin hatte nach unten geblickt, doch jetzt schaute er hoch und sah Erlendur an.
»Das war ihr Wunsch«, sagte er. »Das war zwischen uns so abgesprochen. Sie wollte nicht in der Erde liegen und … Du weißt schon. Sie fand, das sei die bessere Alternative. Ich bin derselben Meinung, ich werde das auch mit mir machen lassen.«
»Weißt du etwas darüber, ob deine Frau sich für übernatürliche Phänomene interessiert hat? Hat sie beispielsweise an spiritistischen Sitzungen oder dergleichen teilgenommen?«
»Nicht mehr als andere«, erklärte Baldvin. »Sie hatte schreckliche Angst im Dunkeln. Das ist dir sicher schon gesagt worden.«
»Ja.«
»Danach hast du mich auch schon einmal gefragt«, sagte Baldvin. »Über das Leben nach dem Tod und solche Medien. Was willst du damit andeuten? Was weißt du?«
Erlendur sah ihn lange an.
»Was weißt du?«, wiederholte Baldvin.
»Ich weiß, dass sie zu einem Medium gegangen ist«, antwortete Erlendur.
»Und?«
Erlendur zog die Kassette aus seiner Manteltasche und reichte sie Baldvin.
»Das ist die Aufzeichnung von einer Séance, die María besucht hat«, sagte er. »Sie ist vielleicht einer der Gründe dafür, weshalb ich gern mehr über María gewusst hätte.«
»Eine Aufzeichnung von einer Séance?«, fragte Baldvin. »Wie … Wieso hast du diese Kassette?«
»Ich habe sie nach Marías Tod erhalten. Sie hatte sie ihrer Freundin gegeben.«
»Ihrer Freundin?«
»Ja.«
»Und wer ist das?«
»Ich werde sie bitten, Verbindung mit dir aufzunehmen, falls sie das möchte.«
»Hast du dir die Kassette angehört? Ist das nicht eine Verletzung der Privatsphäre?«
»Es wäre vielleicht interessanter zu wissen, was diese Aufzeichnung dir sagt. Du hast ganz bestimmt nichts von dieser Séance gewusst?«
»Sie hat mir nie etwas von spiritistischen Sitzungen erzählt, und ich denke nicht daran, mich dazu zu äußern. Ich habe keine Ahnung, was sich auf der Kassette befindet, und ich finde das alles in höchstem Maße unnatürlich!«
»Dann bitte ich um Entschuldigung«, sagte Erlendur und stand auf. »Vielleicht möchtest du mit mir reden, wenn du dir das angehört hast. Falls nicht, spielt es auch keine Rolle. Es kann sein, dass sich alles um Marcel Proust dreht.«
»Marcel Proust?«
»Weißt du nichts darüber?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, hatte María solche Angst vor der Dunkelheit, dass sie nicht allein sein konnte«, sagte Erlendur.
»Ich …« Baldvin zögerte.
»Trotzdem war sie in dieser herbstlichen Dunkelheit ganz allein in Þingvellir.«
»Was soll das? Worauf willst du hinaus? Ich gehe davon aus, dass sie niemanden bei sich haben wollte, als sie Selbstmord beging!«
»Nein, wahrscheinlich nicht. Wenn du willst, melde dich«, sagte Erlendur und ließ Baldvin mit der Kassette in den Händen zurück.
Der alte Mann war auf die Krankenstation des Seniorenheims verlegt worden. Erlendur hatte sich vorher nicht angemeldet. Er erkundigte sich danach, wo die Station war, und gelangte schießlich zu dem Zimmer des Mannes. Der zog sich gerade den Bademantel an, was ihm sichtlich Schwierigkeiten bereitete. Erlendur half ihm dabei.
»Ach, bist du das? Vielen Dank«, sagte der alte Mann, als er Erlendur erkannte.
»Wie geht es dir?«, fragte Erlendur.
»So leidlich«, sagte der alte Mann. »Was machst du denn hier?«, fragte er dann, und Erlendur hörte seiner Stimme an, dass er gespannt war. »Es ist doch nicht etwa wegen meinem Davið, oder doch? Hast du etwas über ihn herausgefunden?«
»Nein«, beeilte sich Erlendur zu sagen. »Das nicht. Ich war nur gerade hier in der Nähe, und mir kam die Idee, bei dir vorbeizuschauen.«
»Ich darf eigentlich gar nicht aufstehen, aber ich kann einfach nicht den ganzen Tag im Bett rumliegen. Würdest du mich wohl zum Aufenthaltsraum begleiten?«
Er griff nach Erlendurs Arm
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