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Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi

Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi

Titel: Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indriðason
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und stützte sich darauf, während sie auf den Korridor hinausgingen. Der alte Mann wies ihm den Weg zum Aufenthaltsraum, wo sie Platz nahmen. Das Radio lief, irgendeine bekannte Stimme las aus einem Fortsetzungsroman vor.
    »Kannst du dich an einen Freund deines Sohnes erinnern, der Gilbert hieß? Er ging um die Zeit, als Davið verschwand, nach Dänemark«, sagte Erlendur, der beschlossen hatte, direkt zur Sache zu kommen.
    »Gilbert?«, flüsterte der alte Mann nachdenklich. »Nein, eigentlich kann ich nicht sagen, dass ich mich an ihn erinnere.«
    »Die beiden waren zusammen im Gymnasium. Er hat viele Jahre in Kopenhagen gelebt. Er hat kurz vor Daviðs Verschwinden noch mit ihm telefoniert.«
    »Und hat er euch etwas sagen können?«
    »Nichts Konkretes«, sagte Erlendur. »Diesem Gilbert gegenüber hat dein Sohn allerdings irgendwie angedeutet, dass er möglicherweise eine Beziehung zu einem Mädchen hatte. Ich kann mich erinnern, dass du der Meinung warst, das sei nicht der Fall gewesen, darüber haben wir eigens gesprochen. Aber was dieser Gilbert da sagt, deutet darauf hin, dass es doch anders war.«
    »Davið hatte keine Beziehung«, sagte der alte Mann, »das hätte er uns doch gesagt.«
    »Vielleicht war sie ja noch ganz frisch und hatte noch keine festen Formen angenommen. Dein Sohn hat jedenfalls diesem Gilbert gegenüber so etwas angedeutet. Nach seinem Verschwinden, hat sich da nie eine Frau mit euch in Verbindung gesetzt? Euch angerufen und nach ihm gefragt? Jemand, den ihr nicht kanntet? Es muss ja nicht mehr gewesen sein als eine Stimme am Telefon.«
    Der alte Mann starrte Erlendur an und versuchte angestrengt, sich an das zu erinnern, was in den Tagen und Wochen vorgefallen war, nachdem sein Sohn verschwunden war. Die Familie war zusammengekommen, die Polizei hatte Protokolle angefertigt, Freunde hatten ihre Hilfe angeboten, die Medien brauchten Fotos. Sie hatten kaum Zeit gehabt, sich darüber klar zu werden, was geschehen war, höchstens, wenn sie völlig erschöpft ins Bett fielen. Sie fanden keine Ruhe. Nachts hatten sie ihn lebendig vor Augen, und sie fürchteten, dass sie ihn nie wiedersehen würden.
    Der alte Mann starrte Erlendur an und versuchte, sich an etwas zu erinnern, was ungewöhnlich und fremd gewesen war, einen Gast oder einen Anruf, eine unbekannte Stimme, die fragte: Ist Davið zu Hause?
    »Hat er sich für Mädchen interessiert?«, fragte Erlendur.
    »Kaum. Er war ja noch so jung.«
    »Hat niemand nach ihm gefragt, den ihr nicht gut kanntet, vielleicht ein Mädchen in seinem Alter?«
    »Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. An so etwas kann ich mich absolut nicht erinnern. Ich, wir beide, wir hätten davon gewusst, wenn er ein Mädchen kennengelernt hätte. Etwas anderes ist ausgeschlossen. Allerdings … Man ist ja so alt geworden, vielleicht ist einem da etwas entfallen. Meine Frau hätte dir sicher helfen können.«
    »Nicht selten tun sich Kinder ein bisschen schwer damit, ihren Eltern von so etwas zu erzählen.«
    »Das mag sein. Aber dann kann diese Verbindung nur ganz frisch gewesen sein. Ich kann mich nicht erinnern, dass er eine Beziehung zu irgendeinem Mädchen hatte. Nein, wirklich nicht!«
    »Denkst du, dass sein Bruder darüber Bescheid gewusst haben könnte?«
    »Elmar? Nein. Er hätte uns doch bestimmt davon erzählt. Er hätte gewiss nichts verschwiegen oder vergessen, wenn es von Bedeutung gewesen wäre.«
    Der alte Mann fing an zu husten, und das klang entsetzlich. Der Anfall wurde immer schlimmer und wollte nicht enden. Blut lief ihm aus der Nase, und er musste sich flach auf das Sofa legen. Erlendur rannte auf den Flur, rief nach einer Krankenschwester und stand dann dem alten Mann bei, bis sie eintraf.
    »Die Zeit, die sie mir gegeben haben, ist offenbar wesentlich kürzer«, stöhnte der alte Mann.
    Das Pflegepersonal scheuchte Erlendur hinaus. Er sah zu, wie sie den alten Mann wieder auf sein Zimmer brachten und sich die Tür hinter ihnen schloss. Erlendur ging den Korridor zurück und wusste nicht, ob er den Mann noch einmal wiedersehen würde.
    Nachts lag er wach im Bett und dachte an seine Mutter. Zu dieser Jahreszeit gingen seine Gedanken häufig zu ihr zurück. Er sah sie vor seinem inneren Auge, als sie noch in den Ostfjorden lebten: Sie stand auf dem Hofplatz, schaute zum Bergmassiv des Harðskafi hoch und sah ihn anschließend lächelnd an, als wolle sie ihm Mut machen. Sie würden ihn finden. Die Hoffnung war noch nicht erloschen. Er wusste

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