Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
Leonóra schien nicht ganz bei sich zu sein. Sólveig überlegte, ob sie betrunken war oder unter dem Einfluss von starken Medikamenten stand.
»Er ist nicht ins Wasser gefallen«, erklärte Leonóra.
»Was meinst du damit?«
»Er ist nicht gefallen.«
»Aber … ich habe es in den Zeitungen gelesen …«
»Das, was in den Zeitungen stand, war eine Lüge.«
»Eine Lüge?«
»Wegen María.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Weshalb musstest du ihn mir wegnehmen? Weshalb konntest du uns nicht in Ruhe lassen?«
»Er ist zu mir gekommen, Leonóra. Weshalb musstest du wegen María lügen?«
»Begreifst du das nicht? Wir waren mit Magnús im Boot. María war auch dabei.«
»Auch dabei … Aber …«
Sólveig starrte Leonóra an. »Magnús war doch allein im Boot«, sagte sie. »Das stand doch so in der Zeitung.«
»Das ist eine Lüge«, sagte Leonóra. »Meine Lüge. Ich war bei ihm und María auch.«
»Und weshalb … Weshalb musstest du lügen?«
»Das versuche ich ja gerade dir zu sagen. Magnús ist nicht aus dem Boot gefallen.«
»Was denn?«
»Ich habe ihm einen Stoß versetzt«, sagte Leonóra. »Ich habe ihn gestoßen, und er hat das Gleichgewicht verloren.«
Es verging geraume Zeit, bis Sólveig weitersprach. Erlendur hatte ihr schweigend zugehört. Er spürte, wie sehr ihr das Ganze immer noch zusetzte.
»Magnús ist ins Wasser gefallen, weil Leonóra ihn gestoßen hat«, sagte sie. »Sie haben zugesehen, wie er ertrunken ist. Magnús hatte Leonóra von uns beiden erzählt. Sie hatten sich an dem Morgen heftig gestritten. Davon wusste María nichts. Sie wollte unbedingt eine Bootstour machen. Magnús war schrecklich wütend. Sie begannen wieder zu streiten, und dann streikte auf einmal der Außenbordmotor. Der Streit wurde immer heftiger. Magnús stand auf, um nach dem Motor zu sehen. Da versetzte ihm Leonóra einen Stoß, und im nächsten Augenblick … lag er im See.«
Leonóra sah Sólveig schweigend an.
»Konntet ihr ihm nicht helfen?«, fragte Sólveig.
»Wir konnten nichts machen. Das Boot schaukelte wild und unkontrollierbar. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir wären selbst über Bord gegangen. Das Boot trieb von Magnús weg, und als wir das Gleichgewicht wiedergefunden hatten, war er verschwunden.«
»Großer Gott«, stöhnte Sólveig.
»Du siehst, was du heraufbeschworen hast«, erklärte Leonóra.
»Ich?«
»Das Mädchen ist untröstlich. Sie glaubt, dass sie die Schuld daran hat, was mit ihrem Vater passiert ist. Die Schuld an dem Streit, an allem. Sie frisst das alles in sich hinein. Sie glaubt, dass sie ebenfalls Schuld am Tod ihres Vaters hat. Was glaubst du, wie sie sich fühlt? Was glaubst du, wie ich mich fühle?«
»Du musst mit einem Arzt sprechen, mit einem Psychiater. Sie braucht Hilfe.«
»Ich kümmere mich um María. Falls du das, was ich dir gesagt habe, weitergibst, werde ich alles abstreiten.«
»Und weshalb sagst du mir das alles?«
»Du steckst auch mit drin. Ich will, dass du das weißt. Du bist dafür genauso verantwortlich wie ich!«
Erlendur sah Sólveig lange schweigend an, nachdem sie geendet hatte.
»Weshalb bist du nicht zur Polizei gegangen?«, fragte er schließlich. »Was hat dich daran gehindert?«
»Ich hatte … Ich hatte tatsächlich das Gefühl, dass ich irgendwie mitschuldig war, genau wie Leonóra gesagt hatte. An dem, was geschehen war. Darauf hatte sie es angelegt. ›Es ist deine Schuld‹, fauchte sie mich an. ›Es ist deine Schuld, alles, alles ist deine Schuld.‹ Ihr ganzer Zorn richtete sich gegen mich. Ich war außer mir vor Angst und Trauer, und irgendwie tat mir Leonóra trotz allem sogar leid. Es war ein furchtbarer Schock für mich, ich stand dem Ganzen völlig hilflos gegenüber. Und dann war da ja noch die arme María. Ich konnte mir nicht vorstellen, ihr die Wahrheit über ihre Mutter zu sagen. Ich konnte es nicht. Sie …«
»Was?«
»Das war alles so absurd, dass ich es kaum glauben konnte. Ich hab einfach nicht geglaubt, dass das geschehen war.«
»Du hast Rücksicht auf das Mädchen nehmen wollen?«, fragte Erlendur.
»Hoffentlich verstehst du meine Entscheidung. Ich wollte mich an niemandem rächen. Es war ein Unfall, wie auch immer man es betrachtete. Mir wäre nie eingefallen, an Leonóras Worten zu zweifeln. Sie hat mir gesagt, sie lasse María nie aus den Augen, außer wenn das Mädchen in der Schule sei.«
»Es kann nicht schön gewesen sein, mit so etwas zu leben«, sagte Erlendur.
»Nein, das
Weitere Kostenlose Bücher