Kaeltezone
herein.
»Haraldur«, sagte er, »heute Abend Abendandacht auf Nummer 11.«
Der Mann wartete keine Antwort ab, sondern machte die Tür gleich wieder zu. Erlendur starrte völlig verblüfft auf Haraldur.
»Abendandacht? Du gehst doch wohl nicht zu so was?«
»Abendandacht heißt nichts anderes als Besäufnis«, grunzte Haraldur. »Ich hoffe, dass du nicht enttäuscht bist.«
Sigurður Óli musste innerlich grinsen, war aber mit seinen Gedanken ganz woanders. Es stimmte nämlich nicht ganz, was er Elínborg gesagt hatte, als sie morgens miteinander telefonierten. Bergþóra war wieder bei einer Untersuchung gewesen, und der Arzt hatte ihr eröffnet, dass alles sehr unsicher sei. Bergþóra versuchte, optimistisch zu klingen, als sie ihm das erzählte, aber er wusste, wie sehr sie sich damit quälte.
»Also, dann los«, sagte Haraldur. »Mag sein, dass ich euch nicht die ganze Wahrheit gesagt habe, aber ich kapier auch kein bisschen, warum ihr einem so auf die Pelle rücken müsst. Aber es … ich wollte …«
Erlendur bemerkte ein seltsames Zaudern, als der alte Mann den Kopf hob, um ihm ins Gesicht zu sehen.
»Die Sauerstoffzufuhr bei Jói war abgeschnitten«, sagte er und schaute wieder zu Boden. »Das war der Grund. Bei der Geburt. Sie gingen davon aus, dass alles in Ordnung war, er gedieh prächtig. Dann stellte sich heraus, dass er anders war. Als er heranwuchs. Er war nicht wie die anderen Kinder.«
Sigurður Óli sah zu Erlendur hinüber und gab ihm mit seiner Miene zu verstehen, dass er keine Ahnung hatte, wovon der Alte redete. Erlendur zuckte mit den Achseln. Haraldur legte ein verändertes Benehmen an den Tag, er war nicht so ruppig wie sonst.
»Es stellte sich heraus, dass er komisch im Kopf war«, fuhr Haraldur fort. »Ein armer Tropf. Geistig zurückgeblieben, aber eine Seele von Mensch. Er war völlig unselbstständig und hat nicht einmal lesen gelernt. Das stellte sich erst viel später heraus. Wir haben lange gebraucht, bis wir es uns eingestanden und akzeptierten.«
»Das muss schwer für deine Eltern gewesen sein«, sagte Erlendur nach einer längeren Pause, als es ganz den Anschein hatte, als wolle Haraldur nicht weiterreden.
»Als sie starben, musste ich für Jói sorgen«, sagte Haraldur schließlich und starrte wieder auf den Boden. »Wir haben da auf dem Hof gewohnt, und zum Schluss war es nur noch ein Verlustgeschäft. Außer dem Grund und Boden besaßen wir nichts, was wir hätten verkaufen können. Der Grundbesitz hatte allerdings einigen Wert, weil er so nahe bei Reykjavík lag, und wir haben gut daran verdient. Konnten eine Wohnung kaufen und hatten noch Geld übrig.«
»Was wolltest du uns eigentlich sagen?«, fragte Sigurður Óli ungeduldig. Erlendur sah ihn scharf an.
»Mein Bruder hat diese Radkappe an dem Auto gestohlen«, sagte Haraldur. »Das war das ganze Verbrechen, und jetzt könnt ihr mich in Ruhe lassen«, fügte er hinzu. »Mehr war es nicht. Ich kapiere nicht, wie ihr so viel Aufhebens davon machen könnt. Nach all diesen Jahren. Er hat eine Radkappe geklaut! Ist das vielleicht ein schweres Verbrechen?«
»Wir reden also über den schwarzen Ford Falcon?«, sagte Erlendur.
»Ja, es war der schwarze Falcon.«
»Leopold ist zu euch auf den Hof gekommen«, sagte Erlendur. »Das gibst du also endlich zu.«
Haraldur nickte.
»Hattest du irgendwelche stichhaltigen Gründe dafür, dass du das ein ganzes Menschenalter allen zum Verdruss und völlig überflüssigerweise verheimlicht hast?«, fragte Erlendur schroff.
»Halt mir jetzt bloß keine Predigt«, sagte Haraldur. »Das bringt nichts.«
»Menschen haben jahrzehntelang gelitten«, sagte Erlendur. »Wir haben ihm nichts getan. Ihm ist nichts zugestoßen.« »Du hast die polizeiliche Ermittlung behindert.«
»Du kannst mich gerne einbuchten«, sagte Haraldur. »Das macht kaum einen Unterschied für mich.«
»Was geschah damals?«, fragte Sigurður Óli.
»Mein Bruder war ein einfältiger Mensch«, sagte Haraldur, »aber er hat diesem Mann nichts getan. Er war kein bisschen gewalttätig. Er fand diese verdammte Radkappe schön und hat eine geklaut, es waren immer noch drei dran. Er fand, dass drei Kappen für den Mann ausreichten.«
»Und wie reagierte der Mann?«, fragte Sigurður Óli.
»Ihr habt nach dem Mann gesucht, der vermisst wurde«, fuhr Haraldur fort und starrte Erlendur an. »Ich wollte die Sache nicht noch komplizierter machen. Ihr hättet uns die Hölle heiß gemacht, wenn ich zugegeben
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