Kaeltezone
Mit der Zeit verschwand dieses Bedürfnis, und eine gewisse Taubheit gegenüber dem, was passiert war, nistete sich bei ihm ein. Er bereute nichts. Er hätte es nicht anders haben wollen, so wie die Dinge lagen.
Immer, wenn er zurückdachte, stand ihm Ilonas Antlitz vor Augen, als er sie zum ersten Mal sah. Als sie sich in der Küche des Wohnheims zu ihm setzte und er ihr das Gedicht von Jónas Hallgrímsson erklärte und sie ihn küsste. Wenn er allein mit seinen Gedanken war und sich den Erinnerungen an das, was ihm so kostbar gewesen war, hingab, glaubte er fast, den weichen Kuss auf seinen Lippen zu spüren.
Er setzte sich auf einen Sessel am Fenster und dachte zurück an den Tag, als seine Welt zusammenbrach.
Im nächsten Sommer fuhr er nicht nach Island, sondern arbeitete eine Zeit lang in einer Braunkohlengrube und bereiste anschließend mit Ilona die DDR. Eigentlich hatten sie nach Ungarn fahren wollen, aber er erhielt keine Reiseerlaubnis. Ihm wurde gesagt, dass es immer schwieriger wurde, solche Genehmigungen zu bekommen, wenn man nicht aus den Ostblockländern stammte. Er hörte ebenfalls, dass die Reisen in die Bundesrepublik stark eingeschränkt worden waren.
Sie reisten mit Zügen und Bussen und wanderten viel. Sie genossen es, nur zu zweit unterwegs zu sein. Manchmal schliefen sie unter freiem Himmel, manchmal in kleinen Pensionen, in Schulgebäuden oder auf Bahnhöfen. Es kam auch vor, dass sie einige Tage in landwirtschaftlichen Betrieben arbeiteten, die am Wege lagen. Sie hielten sich längere Zeit auf einem Hof auf, wo Schafe gezüchtet wurden, und der Bauer war sehr angetan davon, dass ein Isländer bei ihm aufgekreuzt war. Er stellte viele Fragen nach der Insel im Norden, vor allem aber erkundigte er sich nach dem Snæfellsjökull, denn es stellte sich heraus, dass er Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde gelesen hatte. Sie blieben zwei Wochen dort, und es machte ihnen Spaß, auf dem Hof zu arbeiten. Sie lernten einiges über die Landwirtschaft. Als sie sich von dem Bauern und seiner Famlie verabschiedeten, waren ihre Rucksäcke prall gefüllt mit Lebensmitteln.
Sie erzählte ihm von ihrem Elternhaus in Budapest und ihren Eltern, die beide Mediziner waren. Sie hatte ihnen in ihren Briefen von ihm erzählt. Was habt ihr für Pläne?, hatte ihre Mutter in einem Brief gefragt. Sie war die einzige Tochter. Ilona hatte ihr gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen solle, aber das nützte nicht viel. Wollt ihr heiraten? Was ist mit dem Studium? Was ist mit der Zukunft? Es waren alles Fragen, über die sie selber auch nachgedacht hatten, sowohl gemeinsam als auch jeder für sich, aber sie brannten ihnen nicht auf der Seele. Nur sie beide in der Gegenwart waren wichtig. Die Zukunft war ein unbekanntes, geheimnisvolles Land, und sie wussten nur eines, dass sie gemeinsam auf dem Weg dorthin waren.
Manchmal erzählte sie ihm abends von ihren Freunden in Ungarn und war sich sicher, dass sie ihn mit offenen Armen empfangen würden. Sie erzählte ihm, wie sie stundenlang in Kneipen und Cafés saßen und über die Veränderungen diskutierten, die geschehen mussten und die bevorstanden. Ilona war voller Begeisterung, wenn sie sich ein freies Ungarn vorstellte. Von der Freiheit, die er selber sein ganzes Leben lang genossen hatte, sprach sie wie von einem unfassbaren und fernen Traumbild. Ilona und ihre Freunde sehnten sich nach etwas, das für ihn eine solche Selbstverständlichkeit war, dass er nie ernsthaft darüber nachgedacht hatte. Sie berichtete von Freunden, die verhaftet wurden und ins Gefängnis kamen, und anderen Leuten, von denen sie gehört hatte, dass sie spurlos verschwunden waren und niemand wusste, was aus ihnen geworden war. Er spürte die Angst in ihrer Stimme, aber auch die Hochstimmung, die damit verbunden war, eine tiefe Überzeugung zu haben und bereit zu sein, für sie zu kämpfen, was für Opfer es auch kosten möge. Er spürte ihre innere Spannung und die Erwartungen, die damit verbunden sind, wenn große Ereignisse bevorstehen.
In diesen Wochen, in denen sie zusammen auf Reisen waren, hatte er viel Zeit zum Nachdenken, und er gelangte zu der Überzeugung, dass der Sozialismus, den er in Leipzig kennen gelernt hatte, auf Lügen aufbaute. Er verstand immer besser, wie Hannes zumute gewesen war. Er war jetzt, genau wie Hannes seinerzeit, zu Verstand gekommen und hatte entdeckt, dass es nicht nur eine Wahrheit, und zwar die sozialistische, gab, sondern dass eine einzige
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