Kaeltezone
seinetwegen jemand anderem gekündigt wurde. Benedikt hat bei ihm ziemlich Druck gemacht, obwohl er keineswegs mit ihm zufrieden war. Ich hab das nie kapiert. Unterhalte dich lieber mit ihm, sprich mit Benedikt.«
Sigurður Óli schaltete den Fernseher aus. Er hatte sich eine Zusammenfassung der isländischen Fußballspiele vom Wochenende angesehen, die spätabends ausgestrahlt wurde. Bergþóra war in ihrem Damenclub. Als das Telefon klingelte, dachte er, sie sei es, und nahm ab. Sie war es aber nicht. »Entschuldige, dass ich dauernd bei dir anrufe«, sagte die Stimme in der Leitung. Sigurður Óli zögerte ein wenig, bevor er auflegte. Gleich darauf klingelte es wieder. Sigur- ður Óli starrte auf den Apparat.
»Verdammt noch mal«, sagte er, als er abhob.
»Nicht auflegen, bitte«, sagte der Mann. »Ich wollte nur ganz kurz mit dir sprechen. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich mit dir reden kann. Von dem Augenblick an, als du zu mir nach Hause kamst und mir die Nachricht überbracht hast.«
»Ich bin … im Ernst, ich bin nicht dein Seelsorger. Du gehst zu weit. Ich möchte, dass du damit aufhörst. Ich kann dir nicht helfen. Es war ein erbärmlicher Zufall und nichts anderes. Damit musst du dich abfinden. Versuch doch, das zu verstehen. Adiós.«
»Ich weiß, dass es Zufall war«, sagte der Mann. »Aber ich war es, der ihn bewirkt hat.«
»Niemand kann Zufälle bewirken«, sagte Sigurður Óli. »Sonst wären es ja keine Zufälle. Es fängt damit an, dass man in diese Welt hineingeboren wird.«
»Wenn ich sie nicht aufgehalten hätte, wären die beiden sicher nach Hause gekommen.«
»Das ist völlig absurd. Und du weißt es auch. Du kannst dir nicht die Schuld daran geben. Das kannst du einfach nicht machen. Es ist einfach ein Unding, sich an so etwas die Schuld zu geben.«
»Wieso nicht? Zufälle kommen nicht von allein zustande. Sie entstehen aus den Umständen, die wir schaffen. Wie an jenem Tag.«
»Das ist völlig absurd, und ich habe absolut keine Lust, darüber zu reden.«
»Weshalb?«
»Wenn wir uns von solchen fixen Ideen leiten lassen, wie sollen wir es dann je geregelt kriegen, irgendwelche Entscheidungen zu treffen? Deine Frau fuhr an diesem Tag zum Supermarkt, mit der Entscheidung hattest du nichts zu tun. War es dann vielleicht Selbstmord? Nein, natürlich nicht, sondern es war ein hirnrissiger Depp in einem Jeep und noch dazu besoffen. Nichts anderes.«
»Den Zufall habe ich bewirkt, denn ich habe sie angerufen.«
»Wenn du so weitermachst, können wir endlos darüber diskutieren«, sagte Sigurður Óli. »Sollen wir einen Ausflug aufs Land machen? Sollen wir ins Kino gehen? Sollen wir uns in einem Café treffen? Niemand würde es noch wagen, so etwas vorzuschlagen, aus lauter Angst, dass etwas passiert. Du bist absurd.«
»Genau darum geht es«, sagte der Mann.
»Wie bitte?«
»Wie kriegen wir es geregelt?«
Sigurður Óli hörte Bergþóra zur Tür hereinkommen.
»Jetzt muss ich Schluss machen«, erklärte er. »Das ist blanker Unsinn.«
»Ja, ich auch«, sagte der Mann. »Ich muss Schluss machen.« Dann legte er auf.
Zweiundzwanzig
Er verfolgte die Berichterstattung über den Skelettfund im Kleifarvatn im Rundfunk, im Fernsehen und in den Zeitungen genau mit und bemerkte, dass immer weniger darüber gemeldet wurde, bis der Fall schließlich völlig in den Hintergrund rückte. Nur noch ganz vereinzelt kam eine Meldung, dass sich in der Ermittlung nichts Neues ergeben habe, und man berief sich dabei auf einen gewissen Sigurður Óli bei der Kriminalpolizei. Ihm war klar, dass es nichts zu bedeuten hatte, wenn auf einmal keine Nachrichten mehr verlautbarten. Die Ermittlungen waren bestimmt noch in vollem Gange, und falls sie gut vorankamen, würden sie eines Tages vor seiner Tür stehen. Vielleicht schon bald. Vielleicht dieser Sigurður Óli. Möglicherweise würden sie aber auch nie herausfinden, was geschehen war. Er musste im Stillen lächeln. Er war sich nicht mehr sicher, ob es das war, was er wollte. Es hatte viel zu lange auf ihm gelastet. Manchmal kam es ihm so vor, als hätten sich sein Leben und seine Existenz ausschließlich um die Angst vor der Vergangenheit gedreht.
Früher hatte er manchmal den unwiderstehlichen Drang verspürt – einen Drang, den er nur schwer unter Kontrolle zu halten vermochte –, von dem, was geschehen war, zu erzählen, sich zu stellen und die Wahrheit zu sagen. Aber er widerstand der Versuchung jedes Mal und beruhigte sich wieder.
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