Kaeltezone
hatten. Konnte es sein, dass Lothar versuchte, ihn damit zu verunsichern? Oder wollte Ilona ihn benutzen, um in den Westen zu gelangen?
Zum Schluss rannte er. Menschliche Wesen sausten an ihm vorbei, ohne dass er sie wahrnahm. Wie benommen überquerte er eine Straße nach der anderen, und wirre Gedankenfetzen und Bilder schossen ihm durch den Kopf, Gedanken über Ilona, über sich selbst, über Lothar und die Stasi und die Stahltür mit dem Spion. Über den Mann mit dem Schnauzbart. Ihm gegenüber würde man keine Nachsicht zeigen, so viel wusste er. Isländer oder nicht Isländer, das spielte für diese Leute keine Rolle. Isländer konnten genauso gut wie andere einfach verschwinden. Sie wollten, dass er für sie spionierte. Ihnen Berichte ablieferte über das, was auf Ilonas Geheimversammlungen diskutiert wurde. Berichte über das, was ihm in der Universität zu Ohren kam, was die Isländer unter sich redeten und die anderen Ausländer dachten. Sie wussten, dass sie ihn in die Enge getrieben hatten. Und falls er sich weigerte, würde er nicht so glimpflich davonkommen wie Hannes.
Sie hatten Ilona.
Er war den Tränen nahe, als er endlich nach Hause kam und Ilona stumm umarmte. Sie hatte sich Sorgen gemacht und sagte, dass sie lange bei der Thomaskirche auf ihn gewartet hätte, aber als er nicht auftauchte, sei sie nach Hause gegangen. Er berichtete ihr von dem, was passiert war, obwohl ihm eingeschärft worden war, dass er ihr nichts sagen durfte. Ilona lauschte seinen Worten schweigend, und als er geendet hatte, begann sie, ihn nach Einzelheiten auszufragen. Er antwortete so präzise wie möglich. Ihre erste Frage galt den Leipzigern, ihren Freunden, ob man alle auf den Fotos erkennen könne. Er sagte, dass seiner Meinung nach die Stasi über jeden Einzelnen von ihnen Bescheid wusste.
»Großer Gott«, stöhnte Ilona, »wir müssen sie warnen. Wie haben sie das herausgekriegt? Sie müssen uns beschattet haben. Irgendjemand hat uns verraten, jemand, der von diesen Treffen gewusst hat. Wer? Wer hat uns verraten? Wir sind so vorsichtig vorgegangen. Niemand wusste von diesen Versammlungen.«
»Ich weiß es nicht«, sagte er.
»Ich muss mich mit ihnen in Verbindung setzen«, sagte sie, während sie in dem kleinen Zimmer auf und ab ging. Sie blieb am Fenster stehen und spähte auf die Straße. »Beschatten sie uns wirklich?«, fragte sie. »Jetzt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er.
»Großer Gott«, stöhnte Ilona noch einmal.
»Sie haben gesagt, dass Hannes und du … dass ihr zusammen gewesen seid«, sagte er. »Lothar hat das gesagt.«
»Das ist gelogen«, sagte sie. »Alles, was sie sagen, ist gelogen. Das müsstest du doch wissen. Sie spielen mit dir Katz und Maus, mit uns beiden. Wir müssen eine Entscheidung treffen, was jetzt zu tun ist. Ich muss diese Leute warnen.«
»Sie haben gesagt, dass du dich an die Isländer hältst, um in den Westen zu kommen, um nach Island zu kommen.«
»Tómas, natürlich sagen sie so etwas. Was sollten sie denn sonst sagen? Hör auf mit diesem Unsinn.«
»Sie haben verlangt, dass ich dir nichts davon sage, deswegen müssen wir schrecklich vorsichtig sein«, sagte er. Er wusste, dass sie Recht hatte. Alles, was sie sagten, war gelogen. Alles. »Du bist in großer Gefahr«, sagte er, »das haben sie mir zu verstehen gegeben. Wir dürfen keine Fehler machen.«
Sie schauten sich verzweifelt an.
»In was sind wir da hineingeraten?«, stöhnte er.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie und umarmte ihn. Sie schien sich dabei etwas zu beruhigen.
»Sie wollen hier kein zweites Ungarn. Da sind wir hineingeraten.«
Drei Tage später verschwand Ilona spurlos.
Karl war bei ihr, als sie anrückten und Ilona festnahmen, und er rannte anschließend die ganze Strecke bis zur Universität, um ihm Bescheid zu sagen. Karl war gekommen, um ein Buch bei ihr abzuholen, das sie ihm ausleihen wollte. Urplötzlich erschienen die Vopos. Er selber wurde an die Wand gedrückt. Das Zimmer wurde auf den Kopf gestellt. Ilona wurde abgeführt.
Karl berichtete immer noch, als er schon loslief. Sie hatten sich so in Acht genommen. Ilona hatte ihre Freunde benachrichtigt, und sie hatten Vorbereitungen getroffen, Leipzig zu verlassen. Sie wollte zurück nach Ungarn, um bei ihrer Familie zu sein, und er beabsichtigte, zunächst nach Island zu fahren und später nach Budapest zu kommen. Das Studium spielte keine Rolle mehr, es ging nur noch um Ilona.
Seine Lungen waren dem Platzen nah, als er nach Hause
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