Kaeltezone
zur Vernehmung abgeführt worden war und bald wieder freigelassen würde. Vielleicht ging es jetzt darum, ihr Angst zu machen, genau wie sie ihm vor einigen Tagen Angst gemacht hatten. Sie machten sich die Angst der Menschen zunutze. Vielleicht war sie sogar schon wieder zu Hause. Er stand auf und verließ die Kaffeestube.
Als er hinaustrat, schaute er sich um und fand es seltsam, dass alles genau wie immer zu sein schien. Die Leute benahmen sich wie sonst − als ob nichts passiert wäre. Sie hasteten über die Bürgersteige oder standen zusammen und hielten ein Schwätzchen. Seine Welt war zusammengebrochen, aber alles war wie gehabt, alles schien in Ordnung zu sein. Er wollte nach Hause und dort auf sie warten. Vielleicht war sie sogar schon zu Hause. Vielleicht würde sie etwas später kommen. Sie musste einfach wiederkommen. Aus welchem Grund konnten sie sie festhalten? Weil sie sich mit Leuten getroffen und mit ihnen geredet hatte?
Auf dem Weg nach Hause wusste er nicht, wo ihm der Kopf stand, er war wie von Sinnen. Es war erst so kurz her, dass sie dicht beieinander lagen und sie ihm sagte, dass es jetzt sicher sei, was sie seit einiger Zeit vermutet hatte. Sie flüsterte es ihm ins Ohr. Wahrscheinlich war es gegen Ende des Sommers geschehen.
Er lag wie gelähmt da und starrte zur Decke, weil er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Aber dann umarmte er sie und sagte, dass er sein ganzes Leben mit ihr verbringen wollte.
»Mit uns beiden«, flüsterte sie.
»Ja, mit euch beiden«, sagte er und legte den Kopf auf ihren Bauch.
Er kam wieder zu sich, als seine Hand zu schmerzen begann. Wenn er an die damaligen Ereignisse zurückdachte, ballte er oft unwillkürlich die Faust, bis sie zu schmerzen anfing. Die Muskeln entkrampften sich, er saß auf seinem Sessel und dachte wie immer darüber nach, ob er es hätte verhindern können. Ob er etwas anderes hätte tun können. Etwas, das den Lauf der Dinge beeinflusst hätte. Er kam nie zu einem Ergebnis.
Steif erhob er sich aus dem Sessel und ging zur Kellertür. Er öffnete sie und schaltete das Treppenlicht ein, bevor er vorsichtig nach unten stieg. Die Treppe war ausgetreten, und die Stufen waren glatt. Er betrat den geräumigen Keller und machte Licht. Hier hatte sich im Laufe der Jahre viel angesammelt. Das schien unvermeidlich zu sein, denn er warf kaum etwas weg. Trotzdem herrschte kein Durcheinander, er war schon immer ein ordnungsliebender Mensch gewesen. Alles hatte seinen Platz, und alles, was er aufbewahrte oder verwendete, war an Ort und Stelle.
An der einen Wand befand sich ein Werktisch. Hin und wieder schnitzte er kleine Gegenstände aus Holz und bemalte sie. Das war sein einziges Hobby. Sich einen kantigen Holzklotz vorzunehmen und daraus etwas Lebendiges und Schönes zu schaffen. Einige Tierfiguren hatte er oben in seiner Wohnung, und zwar die, die er selber für gelungen hielt. Je kleiner sie waren, desto mehr Ehrgeiz legte er hinein. Es war ihm beispielsweise gelungen, einen Islandhund mit buschigem Schwanz und spitzen Ohren zu schnitzen, der kaum größer als ein Fingerhut war.
Er hockte sich vor den Arbeitstisch und öffnete den Kasten, den er darunter aufbewahrte. Seine Hand umschloss den Pistolengriff, und er zog die Waffe heraus. Wie immer fühlte sich der Stahl kalt an. Manchmal führten ihn seine Erinnerungen in den Keller, um die Waffe in die Hand zu nehmen oder auch nur, um sich zu vergewissern, dass sie noch an Ort und Stelle war.
Er bereute nichts von dem, was sich viele Jahre später ereignet hatte. Lange nachdem er aus der DDR zurückgekehrt war.
Lange nachdem Ilona spurlos verschwand.
Er würde es nie bereuen.
Dreiundzwanzig
Die deutsche Botschafterin in Reykjavík, Frau Dr. Elisabeth Müller, eine imposante Persönlichkeit knapp über sechzig, nahm sie gegen Mittag persönlich in ihrem Büro in Empfang. Sie warf Sigurður Óli wohlgefällige Blicke zu. Für Erlendur in seiner braunen Strickweste unter dem abgewetzten Jackett schien sie kaum Interesse aufzubringen. Den Doktortitel hatte sie sich als Historikerin erworben. Man hatte Gebäck aus Deutschland und Kaffee für sie bereitgestellt. Sie nahmen auf der eleganten Sofagarnitur Platz, und Sigurður Óli bat um Kaffee. Er wollte nicht unhöflich sein. Erlendur lehnte dankend ab. Am liebsten hätte er sich eine Zigarette angezündet, aber er konnte sich nicht zu der Frage durchringen, ob es gestattet sei.
Es wurden einige höfliche Worte gewechselt, und sie
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