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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Frequenz. Ich schüttle ein paar Mal den Kopf, aber das Dröhnen lässt sich nicht vertreiben.
    Es ist gegen sieben Uhr abends in meinem Zimmer. Oshima und ich haben die Bibliothek abgeschlossen, und Frau Saeki hat eben ihren Golf angelassen, um nach Hause zu fahren. In der Bibliothek sind nur noch Oshima und ich. Das nervenaufreibende Geräusch in meinen Ohren hält an.
    »Die Zeitung ist von vorgestern. Der Artikel ist erschienen, als du im Gebirge warst. Beim Lesen kam mir der Gedanke, dass dieser Ko’ichi Tamura vielleicht dein Vater sein könnte. Bei näherem Hinsehen stimmte alles genau überein. Eigentlich hätte ich dir das schon gestern zeigen sollen, aber ich dachte, du solltest dich erst mal ausruhen.«
    Ich nicke. Wieder presse ich die Finger auf die Augen. Oshima sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Drehstuhl vor dem Schreibtisch. Er schweigt.
    »Ich habe ihn nicht getötet.«
    »Das weiß ich doch«, sagt Oshima. »An dem Tag hast du bis zum Schluss in der Bibliothek gesessen. Rein zeitlich wäre es völlig unmöglich für dich gewesen, nach Tokyo zu fahren, deinen Vater umzubringen und so schnell wieder nach Takamatsu zurückzukommen.«
    Aber das überzeugt mich nicht. Meiner Berechnung nach ist mein Vater genau an dem Tag ermordet worden, als mein Hemd so voller Blut war.
    »Aber in der Zeitung steht, dass die Polizei dich sucht. Wahrscheinlich als wichtigen Zeugen.«
    Ich nicke.
    »Vermutlich wird die ganze Geschichte einfacher, wenn du hier zur Polizei gehst und dein Alibi nachweist, anstatt dich zu verstecken und wegzulaufen. Natürlich werde ich für dich aussagen.«
    »Aber wenn ich das tue, bringen sie mich nach Tokyo zurück.«
    »Wahrscheinlich. Immerhin unterliegst du noch der Schulpflicht und kannst nicht einfach gehen, wohin es dir passt. Eigentlich brauchtest du einen Vormund.«
    Ich schüttele den Kopf. »Ich will niemandem etwas erklären. Ich will nicht in unser Haus nach Tokyo zurück, und ich will nicht wieder in die Schule.«
    Oshima sieht mich nur an.
    »Das ist deine Entscheidung«, sagt er schließlich gelassen. »Ich finde, du hast das Recht zu leben, wie du leben willst. Dabei spielt es keine Rolle, ob du fünfzehn oder einundfünfzig bist. Doch leider ist das keine in der Welt sehr verbreitete Ansicht. Wenn du dich aber vorläufig dafür entscheidest, niemandem etwas erklären zu wollen und abzutauchen, wirst du die ganze Zeit auf der Flucht vor der Polizei und der Öffentlichkeit sein, und das wird eine ziemlich harte Existenz. Du bist erst fünfzehn, da hast du noch viel Zeit vor dir. Ist dir das egal?«
    Ich schweige.
    Oshima nimmt die Zeitung und überfliegt abermals den Artikel.
    »Hier steht, dass es nur deinen Vater und dich gab.«
    »Ich habe auch eine Mutter und eine ältere Schwester. Die sind aber vor sehr langer Zeit fortgegangen. Wo sie sind, weiß ich nicht. Und auch wenn ich es wüsste, zur Beerdigung würden sie wahrscheinlich sowieso nicht kommen.«
    »Aber wer soll sich um alles kümmern, wo dein Vater jetzt tot ist, wenn nicht du? Die Beerdigung, die geschäftlichen Dinge und so weiter.«
    »Laut Zeitung hatte er eine Sekretärin, die für die geschäftlichen Angelegenheiten zuständig war. Sie kennt sich aus und wird das bestimmt übernehmen. Ich will nichts von dem, was mein Vater hinterlassen hat. Von mir aus kann sie über das Haus und das Vermögen verfügen, wie sie es für richtig hält.«
    Das Einzige, was ich von meinem Vater behalte, sind seine Gene.
    »Wenn mein Eindruck richtig ist«, sagt Oshima, »bedauerst du es nicht sonderlich, dass dein Vater getötet wurde?«
    »Doch, ich bedauere es, immerhin war er ja mein leiblicher Vater. Aber noch mehr bedauere ich, dass er nicht schon früher gestorben ist. Ich weiß, es klingt grausam, so über einen Toten zu reden.«
    Oshima schüttelt den Kopf. »Mach dir nichts draus. Ich finde, in dieser Zeit hast du das Recht, ehrlich zu sein.«
    »Wenn das so ist …«
    Meiner Stimme mangelt es am nötigen Gewicht. Die Worte, die ich eigentlich sagen will, werden in den leeren Raum gesaugt, ohne ihr Ziel zu erreichen.
    Oshima setzt sich neben mich.
    »Wissen Sie, Herr Oshima«, beginne ich, »es ist so viel passiert. Einiges davon habe ich gewählt, anderes nicht. Aber ich kann überhaupt nicht mehr unterscheiden. Im Endeffekt kommt es mir so vor, als wäre das, was ich für meine eigenen Entscheidungen gehalten habe, in Wirklichkeit schon längst für mich entschieden gewesen. Als würde ich

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