Kafka am Strand
man durch einen Fluss watet. Mit Blutegeln kenne ich mich aus. Man darf sie nicht einfach so abmachen. Wenn man sie mit Gewalt abreißt, geht die Haut mit ab, und es gibt eine Wunde. Sie fallen nur ab, wenn man Feuer dranhält. Eklig. Sie saugen sich fest, bis sie voller Blut sind, und werden dabei dick und wabblig. Widerlich, was?«
»Jawohl, sehr«, pflichtete Nakata ihm bei.
»Aber dass Blutegel vom Himmel mitten auf einen Rastplatz klatschen sollen! Das ist doch kein Regen! So was Idiotisches habe ich noch nie gehört. Die Leute hier haben doch keine Ahnung von Blutegeln. Es hat Blutegel geregnet, o Mann!«
Nakata wusste darauf nichts zu sagen und schwieg.
»Vor ein paar Jahren gab’s in Yamanashi eine Assel-Plage – auch so eine Rutschpartie für die Reifen. Die Straßen waren genauso glitschig wie eben, und es gab eine Menge Unfälle. Man konnte die Schienen nicht befahren, und die Züge hielten. Aber die Asseln sind nicht vom Himmel gefallen, sondern irgendwo in der Gegend rausgekrochen. Das kann man sich doch denken.«
»Nakata war früher auch mal in Yamanashi. Im Krieg.«
»Hä? In was für einem Krieg?«, fragte der Fahrer.
21
BILDHAUER KO’ICHI TAMURA ERSTOCHEN.
SEIN BÜRO EIN MEER VON BLUT
Der weltbekannte Bildhauer Ko’ichi Tamura (5*) wurde am Nachmittag des 30. von seiner Haushaltshilfe in seinem Arbeitszimmer in Nogata, Bezirk Nakano in Tokyo, tot aufgefunden. Tamura lag völlig unbekleidet in einer Blutlache mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Kampfspuren lassen eindeutig auf Mord schließen. Die Tatwaffe, ein Messer aus der Küche des Opfers, wurde neben der Leiche gefunden.
Als Todeszeitpunkt gibt die Polizei den Abend des 28. an. Da Tamura allein lebte, vergingen zwei Tage bis zur Entdeckung seiner Leiche. Er wurde mit einem Fleischmesser mehrmals in die Brust gestochen und soll aufgrund der großen Menge des aus Herz und Lunge ausgetretenen Blutes beinahe sofort tot gewesen sein. Da die Stiche mit großer Kraft ausgeführt wurden, sind mehrere Rippen gebrochen. Ob Fingerabdrücke und sonstige Spuren sichergestellt werden konnten, hat die Polizei bisher nicht bekanntgegeben. Offenbar gibt es keine Tatzeugen.
Da das Haus nicht durchsucht wurde und weder herumliegende Wertsachen noch die Brieftasche des Opfers entwendet wurden, ist nicht auszuschließen, dass es sich bei der Tat um einen persönlichen Racheakt handelt. Tamuras Haus liegt in einer ruhigen Wohngegend in Nakano, aber die Nachbarn haben von dem Verbrechen nichts bemerkt und äußerten Erstaunen, als sie davon erfuhren. Tamura pflegte kaum nachbarschaftliche Beziehungen und lebte so zurückgezogen, dass ihn niemand vermisste.
Tamuras Sohn (15), der bei ihm lebte, ist laut Aussage der Haushaltshilfe seit zehn Tagen verschwunden. Seither fehlt er auch in der Schule. Gegenwärtig fahndet die Polizei nach ihm.
Außer dem Haus hatte Tamura noch ein Büro mit Atelier in Musashino, das er der dort beschäftigten Sekretärin zufolge bis zum Tag vor seiner Ermordung stets zum Arbeiten aufgesucht habe. Am Tag der Tat habe sie immer wieder versucht, ihn wegen einer geschäftlichen Angelegenheit zu erreichen, doch habe sich jedes Mal nur der Anrufbeantworter eingeschaltet.
Ko’ichi Tamura wurde in den 40er Jahren in Kokubunji in Tokyo geboren. Er studierte an der Kunsthochschule Tokyo Bildhauerei und schuf bereits während seiner Studienzeit zahlreiche bahnbrechende Werke, die als Beginn einer neuen Strömung in der Bildhauerkunst bezeichnet wurden. Dieser neue, individuelle bildhauerische Stil, der etablierte Konzepte überschritt, indem er das Unbewusste des Menschen in konkrete Formen umsetzte, wird weltweit hoch geschätzt. Mit seiner groß angelegten Serie » Labyrinth « , in der er mit sensationeller freier Schöpferkraft die Schönheit und Wirkung labyrinthischer Formen umsetzte, gelangte der Künstler zu allgemeiner Anerkennung. Derzeit war er als Gastprofessor an der ** Hochschule für Schöne Künste beschäftigt, und bei einer Werkausstellung im Museum of Modern Art in New York –
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An dieser Stelle höre ich auf zu lesen. Auf der Seite sieht man auch ein Foto vom Tor unseres Hauses und eine Porträtaufnahme meines Vater, als er noch jünger war. Beide wirken auf dem Zeitungspapier irgendwie unheilvoll. Ich falte die Zeitung zusammen und lege sie auf den Tisch. Stumm sitze ich auf dem Bett und drücke mir die Fingerkuppen auf die Augen. In meinen Ohren dröhnt es dumpf und auf einer konstanten
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