Kafka am Strand
schadete?«
Ich nicke. »Für meinen Vater war ich wohl kaum mehr als eines seiner Werke. Wie eine Skulptur. Es stand ihm frei, mich zu beschädigen und zu zerstören.«
»Wenn das wahr ist, waren seine Vorstellungen ganz schön verzerrt«, sagt Oshima.
»Dort wo ich aufgewachsen bin, war alles verzerrt. So verzerrt, dass sogar das Gerade verzerrt aussah. Das habe ich schon sehr früh erkannt. Aber ich war ein Kind, wo hätte ich denn hin sollen?«
»Ich habe schon öfter Werke deines Vaters gesehen. Er ist ein begnadeter Bildhauer. Originell, provokant, schonungslos, kraftvoll. Was er macht, ist ohne Zweifel authentisch.«
»Kann sein. Aber was bleibt, wenn man das abzieht, ist das Gift, das mein Vater hemmungslos um sich herum versprüht hat. Er hat alle um sich herum besudelt und verletzt. Ob mit Absicht, weiß ich nicht. Vielleicht konnte er einfach nicht anders. Vielleicht war es seine Bestimmung. Wie immer es gewesen sein mag, ich frage mich, ob mein Vater nicht ein besonderes Etwas in sich trug. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich glaube schon«, sagt Oshima. »Etwas, das wohl jenseits der Grenzen von Gut oder Böse liegt. Man könnte es vielleicht als Quelle der Kraft bezeichnen.«
»Und ich habe seine Gene zur Hälfte geerbt. Vielleicht hat meine Mutter mich deshalb zurückgelassen – weil ich unheilvollen Ursprungs bin, besudelt und kaputt?«
Oshima legt einen Finger an die Schläfe und denkt nach. Dann sieht er mich aufmerksam an. »Besteht vielleicht die Möglichkeit, dass er gar nicht dein richtiger Vater ist? Biologisch gesprochen.«
Ich schüttele den Kopf. »Das hat er vor ein paar Jahren im Krankenhaus untersuchen lassen. Wir sind hingegangen, Blut wurde abgenommen und ein Test gemacht. Biologisch sind wir hundertprozentig Vater und Sohn. Ich habe das Untersuchungsergebnis gesehen.«
»Sehr umsichtig von ihm.«
»Damit wollte er mir klarmachen, dass ich ein von ihm geschaffenes Werk sei. Es war wie eine Signatur.«
Oshima hat den Finger noch immer an der Schläfe.
»Aber in Wirklichkeit ist die Prophezeiung deines Vaters gar nicht eingetroffen. Denn du hast ihn nicht getötet. Du warst zu der Zeit in Takamatsu. Jemand anderes hat in Tokyo deinen Vater getötet. Stimmt’s?«
Schweigend strecke ich meine Hände aus und betrachte sie. Die Hände, die in jener tiefdunklen Nacht voll von schwarzem, unheilverkündendem Blut gewesen sind.
»Ehrlich gesagt, ich bin davon nicht überzeugt.«
Nun vertraue ich Oshima alles an. Dass ich in jener Nacht auf dem Rückweg von der Bibliothek für mehrere Stunden das Bewusstsein verloren habe und dass mein Hemd, als ich in dem Wäldchen am Schrein aufgewacht bin, voller Blut gewesen ist. Wie ich das Blut in der Toilette auswaschen wollte und die Erinnerung an die Stunden davor in mir spurlos gelöscht ist. Damit die Geschichte nicht allzu lang wird, lasse ich die Übernachtung bei Sakura aus. Oshima stellt hin und wieder Fragen, vergewissert sich verschiedener Einzelheiten und speichert alles in seinem Kopf. Aber er äußert keine eigene Ansicht dazu.
»Keine Ahnung, wie dieses Blut an mich gekommen ist und von wem es stammt. Ich erinnere mich an nichts«, sage ich. »Aber eine Metapher war es nicht. Vielleicht habe ich meinen Vater wirklich eigenhändig umgebracht. Ich habe fast das Gefühl. Ganz bestimmt bin ich an dem Tag nicht nach Tokyo zurückgefahren, denn ich bin ja, wie Sie sagen, den ganzen Tag in Takamatsu gewesen. Das ist sicher. Aber ›Die Verantwortung beginnt im Traum‹, nicht wahr?«
»Das Gedicht von Yeats«, sagt Oshima.
»Vielleicht habe ich meinen Vater durch meine Träume ermordet. Vielleicht habe ich einen besonderen Traum-Tunnel durchquert, um meinen Vater zu töten.«
»Das denkst du. Und vielleicht ist es für dich in gewissem Sinne auch die Wahrheit. Aber weder die Polizei noch sonst jemand wird dich nicht wegen deiner poetischen Verantwortung verfolgen. Kein Mensch kann an zwei Orten gleichzeitig sein. Das hat Einstein wissenschaftlich nachgewiesen, und auch das Gesetz erkennt diesen Umstand an.«
»Aber ich rede hier nicht von Wissenschaft und Gesetzen.«
»Mein lieber Kafka, was du da sagst, sind doch nur Spekulationen. Gewagte, surrealistische Spekulationen, die sich anhören wie die Handlung eines Science-Fiction-Romans.«
»Natürlich sind das nur Spekulationen. Das weiß ich doch. Niemand würde mir eine so absurde Geschichte glauben. Wenn Hypothesen nicht widerlegt werden, gibt es keinen wissenschaftlichen
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