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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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habe, gebe ich Oshima die Zeitung zurück, in der noch allerlei Spekulationen über die Ursache des Vorfalls angestellt werden. Keine klingt besonders überzeugend. Die Polizei untersuche die Möglichkeit, dass es sich um einen Diebstahl oder groben Unfug gehandelt habe. Der Wetterdienst habe gemeldet, dass keinerlei meteorologische Phänomene aufgetreten seien, die den Fischregen verursacht haben konnten. Die zuständige Pressestelle im Ministerium für Landwirtschaft, Forstwesen und Fischerei hatte zum Zeitpunkt noch keinen Kommentar abgegeben.
    »Hast du eine Idee, was es damit auf sich haben könnte?«, fragt Oshima.
    Ich schüttle den Kopf. Ich habe nicht die geringste Ahnung.
    »Am Tag, nachdem dein Vater getötet wurde, sind ganz in der Nähe des Tatorts zweitausend Sardinen und Makrelen vom Himmel gefallen. Ob das wirklich ein zufälliges Zusammentreffen ist?«
    »Vielleicht.«
    »Außerdem steht in der Zeitung, dass in der Nacht desselben Tages auf einem Rastplatz der Tomei-Autobahn bei Fujikawa eine Menge Blutegel vom Himmel gefallen sind. Sie sind nur auf einen eng begrenzten Platz gefallen. Es gab ein paar leichtere Verkehrsunfälle deswegen. Die Dinger sollen ziemlich groß gewesen sein. Warum Blutegel wie Regen vom Himmel geprasselt sind, kann niemand erklären. Es gab auch fast keinen Wind, und die Nacht war klar. Dazu fällt dir wohl auch nichts ein?«
    Wieder schüttele ich den Kopf.
    »Auf dieser Welt passieren die unerklärlichsten Dinge«, sagt Oshima, während er die Zeitung zusammenfaltet. »Natürlich kann es sein, dass da überhaupt kein Zusammenhang besteht und es nur ein zufälliges Zusammentreffen ist. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass es da doch eine Verbindung gibt.«
    »Vielleicht sind es auch Metaphern«, sage ich.
    »Kann sein. Aber für was sollten die stehen – Sardinen, Makrelen und Blutegel, die vom Himmel fallen?«
    Wir schweigen eine Weile. Dann sage ich ihm das, worüber ich die ganze Zeit nicht hatte sprechen können.
    »Herr Oshima, mein Vater hat mir vor einigen Jahren eine Prophezeiung gemacht.«
    »Eine Prophezeiung?«
    »Ich habe noch nie jemandem davon erzählt. Ehrlich gesagt, dachte ich auch, es würde mir sowieso keiner glauben.«
    Oshima sagt nichts, aber sein Schweigen macht mir Mut.
    »Es ist eigentlich eher ein Fluch als eine Prophezeiung«, sage ich.
    »Mein Vater hat es mir immer und immer wieder gesagt, als wolle er es Zeichen für Zeichen in mein Bewusstsein einmeißeln.«
    Ich hole tief Luft und vergewissere mich noch einmal der Sache, über die ich jetzt sprechen muss. Im Grunde ist das nicht nötig, sie ist immer da. Seit Ewigkeiten ist sie da. Dennoch muss ich ihr Gewicht noch einmal abwägen.
    » Eines Tages wirst du mit deinen eigenen Händen deinen Vater umbringen und dich mit deiner Mutter vereinigen « , sage ich.
    Nachdem ich die Prophezeiung meines Vaters einmal in Form von Worten ausgesprochen habe, entsteht in mir das Gefühl einer großen leeren Höhle, in der mein Herz einen metallischen, hohlen Klang erzeugt. Oshima sieht mich lange an, ohne seinen Ausdruck zu verändern.
    »Du wirst irgendwann deinen Vater töten und mit deiner Mutter schlafen – das hat dein Vater gesagt?«
    Ich nicke heftig.
    »Die gleiche Prophezeiung, die König Ödipus erhielt. Das weißt du natürlich?«
    Ich nicke. »Aber das ist nicht alles. Sie geht weiter. Ich habe noch eine sechs Jahre ältere Schwester, und mein Vater hat gesagt, dass ich mich auch mit ihr vereinigen werde.«
    »Das hat dein Vater dir wirklich prophezeit?«
    »Ja. Aber damals war ich noch in der Grundschule und kannte diese Bedeutung des Wortes ›vereinigen‹ nicht. Verstanden habe ich es erst Jahre später.«
    Oshima sagt nichts.
    »Selbst wenn ich es mit allen Mitteln versuche, kann ich diesem Schicksal nicht entrinnen, hat mein Vater gesagt. Wie eine Zeitbombe ticke die Prophezeiung in meinen Genen, und ich könne nichts tun, um sie zu ändern. Ich töte meinen Vater und schlafe mit Mutter und Schwester. «
    Wieder verharrt Oshima in langem Schweigen. Anscheinend lässt er sich meine Worte einzeln durch den Kopf gehen und versucht, in ihnen einen Anknüpfungspunkt zu entdecken.
    »Was deinen Vater wohl dazu veranlasst hat, dir so etwas zu prophezeien?«
    »Ich weiß nicht. Zu weiteren Erklärungen hat er sich nie herabgelassen. Vielleicht wollte er sich an meiner Mutter und meiner Schwester rächen, weil sie ihn verlassen haben. Sie bestrafen. Durch mich.«
    »Auch wenn es dir

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