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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Fortschritt – hat mein Vater immer gesagt. Hypothesen sind das Schlachtfeld des Gehirns. Einer seiner Lieblingsaussprüche. Und im Augenblick fällt mir keine einzige Gegenthese ein.«
    Oshima schweigt. Und ich weiß nicht, was ich noch sagen soll.
    »Jedenfalls ist das der Grund, aus dem du bis nach Shikoku geflohen bist. Du bist auf der Flucht vor dem Fluch deines Vaters, oder?«, sagt Oshima.
    Mit einem Nicken deute ich auf die zusammengefaltete Zeitung.
    »Doch anscheinend kann ich nicht entkommen.«
    ICH HABE DAS GEFÜHL, DU SOLLTEST DIR LIEBER NICHT ALLZU VIEL VON DER ENTFERNUNG VERSPRECHEN, SAGT KRÄHE.
    »Es sieht so aus, als könntest du ein Versteck brauchen«, sagt Oshima. »Mehr kann ich dir dazu noch nicht sagen.«
    Ich spüre, wie unheimlich müde ich bin. Auf einmal kann ich mich kaum noch aufrecht halten und lehne mich an Oshima. Er nimmt mich fest in die Arme, und ich berge mein Gesicht an seiner nicht gerade schwellenden Brust.
    »Herr Oshima, ich will das nicht – meinen Vater umbringen und mit meiner Mutter und Schwester schlafen.«
    »Natürlich nicht«, sagt Oshima und fährt mit den Fingern durch mein kurzes Haar. »Das geschieht auch nicht.«
    »Aber im Traum.«
    »Oder als Metapher«, sagt Oshima. »Als Allegorie oder Analogie.«
    »Wenn du willst, kann ich heute Nacht hier bei dir bleiben«, sagt er kurz darauf. »Ich kann im Sessel schlafen.«
    Ich wolle lieber allein sein, sage ich.
    Oshima streicht sich die Stirnhaare zurück. Er ist ein wenig verlegen. »Wenn du Angst hast, weil ich eine nichtsnutzige kränkliche schwule Frau bin –«
    »Das ist es nicht«, sage ich. »Überhaupt nicht. Ich möchte nur heute Nacht allein für mich nachdenken. Weil so viel auf einmal passiert ist. Mehr nicht.«
    Oshima schreibt seine Telefonnummer auf einen Zettel. »Wenn du in der Nacht mit jemandem reden musst, ruf an. Nimm keine Rücksicht. Ich habe einen leichten Schlaf.«
    Ich bedanke mich.
     
    In dieser Nacht sehe ich den Geist.

22
    Der Laster, der Nakata mitgenommen hatte, kam gegen fünf Uhr morgens in Kobe an. Die Stadt war hell erleuchtet, aber das Lager, in das die Fracht geliefert werden sollte, hatte noch nicht geöffnet. Die beiden parkten den Laster an einer breiten Straße in der Nähe des Hafens und hielten ein Schläfchen. Der junge Mann legte sich auf die Rückbank und schlief ein. Hin und wieder wurde Nakata von seinem wohligen Schnarchen geweckt, aber er fiel jedes Mal sofort wieder in seinen behaglichen Schlaf. Schlaflosigkeit war ein ihm bisher unbekanntes Phänomen.
    Kurz vor acht richtete sich der junge Mann mit einem gewaltigen Gähnen auf.
    »Wie sieht’s aus, mein Guter, hast du Hunger?«, fragte er, während er sich vor dem Rückspiegel mit einem Elektrorasierer über die Wangen fuhr.
    »Jawohl, ein bisschen.«
    »Dann wollen wir uns mal in der Nähe was zum Frühstück suchen.«
    Nakata hatte fast die ganze Fahrt von Fujikawa nach Kobe verschlafen. Der junge Mann hatte kaum gesprochen und sich eine Nachtsendung im Radio angehört. Ab und zu sang er mit. Alles Melodien, die Nakata noch nie gehört hatte. Obwohl es japanische Lieder waren, konnte er von den Texten kaum etwas verstehen. Nur hier und da schnappte er bruchstückhaft ein Wort auf. Die Schokolade und die Reisklöße in seinem Beutel, die ihm die beiden jungen Angestellten am Tag zuvor in Shinjuku gegeben hatten, hatte er mit dem jungen Mann geteilt.
    Der hatte – um den Schlaf zu vertreiben, wie er sagte – unablässig geraucht, sodass Nakatas Kleidung, als sie in Kobe ankamen, stark nach Zigarettenrauch roch.
    Nakata griff sich seinen Beutel und seinen Schirm und stieg aus.
    »Ach, lass doch das schwere Zeug im Wagen. Es ist ganz nah, und nach dem Essen kommen wir gleich wieder her«, sagte der junge Mann.
    »Sie haben schon Recht, aber ohne seine Sachen hat Nakata keine Ruhe.«
    »Hm«, sagte der Junge und kniff die Augen zusammen. »Schon gut. Mich stört’s nicht. Mach’s, wie du willst.«
    »Besten Dank.«
    »Ich heiße übrigens Hoshino. Mit den gleichen Zeichen wie der Trainer Hoshino von den Chunichi Dragons. Wir sind aber nicht verwandt.«
    »Freut mich Sie kennen zu lernen, Herr Hoshino. Nakata der Name.«
    »Weiß ich doch schon«, sagte Hoshino.
     
    Der junge Mann schien sich genau auszukennen und ging mit großen Schritten rasch vorweg. Nakata musste fast rennen, um ihm zu folgen. Schließlich betraten sie ein kleines Lokal in einer der hinteren Gassen. Es war ein Treffpunkt für

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