Kafka am Strand
Und mit ihr reden. Aber trotzdem ist die Erscheinung, die ich hier gesehen habe, ihr »Geist« gewesen. Ein Mensch könne nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, hat Oshima gesagt. Dennoch bin ich überzeugt, dass so etwas vorkommt. Dass ein Mensch zu Lebzeiten ein Geist wird.
Und noch einen wichtigen Umstand gibt es: Ich fühle mich zu diesem Geist hingezogen. Nicht zu Frau Saeki, wie sie heute ist, sondern zu der Fünfzehnjährigen, die nicht hier ist, fühle ich mich hingezogen. Und zwar sehr stark. So stark, dass es sich nicht beschreiben lässt. Das ist die Realität. Auch wenn das Mädchen keine reale Existenz ist, ist das Herz, das in meiner Brust so gewaltig und stark schlägt, mein gegenwärtiges, reales. Ebenso wie das Blut, das in jener Nacht an meiner Brust geklebt hat, wirkliches Blut war.
Zur Schließenszeit kommt Frau Saeki herunter. Wie immer klappern ihre Absätze auf der Treppe. Beim Anblick ihres Gesichts verkrampfen sich meine Muskeln, und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich erkenne in ihr das fünfzehnjährige Mädchen, das wie ein kleines Tier im Winterschlaf, zusammengerollt und unbemerkt, in ihrem Körper schlummert. Für mich ist es sichtbar.
Sie fragt mich etwas, aber ich kann nicht antworten. Ich habe nicht einmal die Frage richtig begriffen. Natürlich sind ihre Worte an meine Ohren gedrungen, ließen mein Trommelfell vibrieren, und die Vibration wurde an meinen Verstand weitergeleitet und in Sprache umgesetzt. Dennoch kann ich keine Verbindung zwischen den Worten und ihrer Bedeutung herstellen. Ich werde rot vor Verlegenheit und stammle etwas Sinnloses. Oshima beantwortet ihre Frage an meiner Stelle. Ich nicke dazu. Frau Saeki lächelt, verabschiedet sich von Oshima und mir und macht sich auf den Heimweg. Vom Parkplatz hört man den Motor ihres Golf. Das Geräusch entfernt sich und ist bald verstummt. Oshima bleibt noch und hilft mir beim Abschließen der Bibliothek.
»Bist du möglicherweise verliebt?«, fragt er. »Du bist die ganze Zeit so abwesend.«
Mir fällt keine Antwort ein, also sage ich nichts. Stattdessen stelle ich ihm eine Frage. »Herr Oshima, es klingt vielleicht seltsam, aber kann ein Mensch, der noch lebt, zum Geist werden?«
Oshima hält beim Aufräumen inne und sieht mich an.
»Eine hochinteressante Frage. Betrifft die Frage die menschliche Psyche in literarischer und damit metaphorischer Hinsicht? Oder bezieht sie sich mehr auf die Realität?«
»Vielleicht mehr auf die Realität«, sage ich.
»Das heißt, wir gehen davon aus, dass es wirklich Geister gibt, oder?«
»Ja.«
Oshima nimmt die Brille ab, putzt sie mit seinem Taschentuch und setzt sie wieder auf.
»So etwas nennt man ›lebende Geister‹.. Ich weiß nicht, wie es in anderen Ländern ist, aber in der japanischen Literatur gibt es dieses Phänomen häufiger. In Die Geschichte vom Prinzen Genji kommt so etwas zum Beispiel vor. In der Heian-Zeit, oder zumindest in der Gefühlswelt der Menschen in der Heian-Zeit, konnte eine Person unter Umständen zu Lebzeiten zum Geist werden, sich durch den Raum fortbewegen und bestimmte Absichten verwirklichen. Hast du Die Geschichte vom Prinzen Genji gelesen?«
Ich schüttle den Kopf.
»Hier in der Bibliothek gibt es ein paar Übersetzungen ins moderne Japanisch, da könntest du es nachlesen. Zum Beispiel wird die Dame Rokujo no Miyasudokoro, eine der Geliebten des Prinzen Genji, von heftiger Eifersucht auf dessen Ehefrau Aoi gequält, verwandelt sich dadurch in einen Rachegeist und ergreift von Aoi Besitz. Nacht für Nacht dringt sie in Aois Schlafgemach ein, bis sie sie schließlich tötet. Aoi ist schwanger von Genji, und diese Nachricht erregt den Hass der Dame Rokujo. Der Prinz lässt Priester rufen, die den bösen Geist mit Gebeten austreiben sollen, aber Rokujos Hass ist so stark, dass es unmöglich ist, ihn zu besiegen.
Das Interessanteste an dieser Geschichte ist jedoch, dass die Dame Rokujo selbst von ihrer Verwandlung in einen Rachegeist nichts bemerkt. Eines Tages erwacht sie in völliger Verwirrung, von Alpträumen gequält. Ihre langen schwarzen Haare sind von Mohngeruch durchtränkt, denn bei den Gebeten für Aoi wurde Mohn verbrannt. Ohne es zu wissen, hatte sie den Raum verlassen und war durch die tiefsten Schichten ihres Bewusstseins wie durch einen Tunnel in Aois Schlafgemach gelangt. Das ist eine der unheimlichsten und spannendsten Episoden in der Geschichte vom Prinzen Genji. Nachdem die Dame Rokujo erkennt, was sie, ohne es zu
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