Kafka am Strand
scheint der große Hartriegel gleich neben dem Fenster zu leuchten. Der Wind hat sich gelegt. Kein Laut dringt an mein Ohr. Ich habe den Eindruck, als sei ich, ohne es zu merken, gestorben. Ich bin gestorben und sinke mit ihr auf den Grund eines tiefen Kratersees hinab.
Auf einmal nimmt sie die Hände vom Gesicht und legt sie auf ihre kleinen weißen Knie, die nebeneinander unter ihrem Rocksaum hervorschauen. Ganz plötzlich hört sie auf, die Wand anzustarren, dreht sich und richtet ihren Blick auf mich. Sie fasst sich mit einer Hand an das Haar, das ihr in die Stirn fällt. Die schmalen mädchenhaften Finger verweilen einen Moment auf der Stirn, als versuche sie, sich an etwas zu erinnern. Sie siebt mich an. Mein Herz beginnt zu pochen. Doch seltsamerweise scheint sie nicht mich anzuschauen, sondern etwas, das jenseits von mir liegt.
Auf dem Grund des Kratersees, auf den wir beide gesunken sind, ist alles still. Schon seit Urzeiten hat der Vulkan seine Tätigkeit eingestellt. Wie weicher Morast hat sich in ihm Einsamkeit aufgehäuft. Das schwache Licht, das die Wasseroberfläche durchdringt, schimmert bleich wie der Abglanz einer fernen Erinnerung. Kein Zeichen von Leben ist auf dem tiefen Grund des Sees zu entdecken. Wie lange betrachtet sie mich – oder die Stelle, an der ich mich befinde? Jedes Zeitgefühl ist mir verloren gegangen. Die Zeit dehnt sich oder stockt dort, je nach den Bedürfnissen des Herzens. Doch bald erhebt sich das Mädchen unvermittelt und geht mit leichten Schritten leise zur Tür. Die Tür steht nicht offen, dennoch verschwindet sie ohne einen Laut.
Wie erstarrt liege ich in meinem Bett. Ich halte die Augen nur einen Spalt geöffnet und rühre mich nicht. Vielleicht kommt sie noch einmal zurück, denke ich. Nein, ich sehne mich danach, dass sie zurückkommt. Ich warte lange, aber sie kommt nicht. Endlich hebe ich den Kopf und schaue auf das Leuchtzifferblatt des Weckers auf meinem Nachttisch. 3 Uhr 25. Ich verlasse mein Bett, um den Stuhl zu berühren, auf dem sie gesessen hat. Er fühlt sich nicht warm an. Ich nehme die Schreibtischplatte näher in Augenschein. Ob vielleicht ein Haar darauf gefallen ist? Aber ich kann nichts entdecken. Ich setze mich auf den Stuhl, reibe mir das Gesicht und stoße einen langen Seufzer aus.
Schlafen kann ich nicht. Ich ziehe die Vorhänge zu und krieche unter die Bettdecke, aber es geht nicht. Mir wird klar, wie ungewöhnlich stark ich mich zu dem rätselhaften Mädchen hingezogen fühle. Das, was ich gleich zu Anfang gespürt habe, ist ein reales Gefühl, das durch etwas, das keiner anderen Empfindung gleicht und große Kraft hat, in meinem Herzen entsteht, dort Wurzeln fasst und beständig wächst. Wild schlägt mein heißes Herz gegen den Käfig der Rippen, in dem es gefangen ist. Es dehnt sich aus, zieht sich zusammen.
Ich schalte wieder das Licht ein und erwarte, aufrecht im Bett sitzend, den Morgen. Lesen oder Musik hören kann ich nicht. Nichts kann ich. Nur dort sitzen und auf den Morgen warten. Erst als der Himmel heller wird, kann ich endlich ein bisschen schlafen. Offenbar habe ich im Schlaf geweint, denn als ich aufwache, ist mein Kissen klamm. Doch weshalb ich diese Tränen vergossen habe, weiß ich nicht.
Gegen neun höre ich Oshima in seinem Mazda-Roadster vorfahren. Wir bereiten alles für die Öffnung der Bibliothek vor, und als wir damit fertig sind, bringt mir Oshima das Kaffeekochen bei. Wir mahlen die Bohnen in der Kaffeemühle, dann wird Wasser in einer Kanne mit einer besonders schmalen Tülle zum Kochen gebracht. Wir lassen es einen Moment lang zur Ruhe kommen, bis wir es schließlich langsam über den Kaffee im Filter gießen. In den fertigen Kaffee gibt Oshima nur eine ganz kleine Prise Zucker. Milch nimmt er nicht. Er behauptet, so sei der Kaffee am schmackhaftesten. Ich mache mir eine Tasse Earl Grey. Oshima trägt ein schimmerndes braunes Hemd mit kurzen Ärmeln und eine weiße Leinenhose. Mit einem nagelneuen Taschentuch aus seiner Hosentasche putzt er sich die Brille und mustert mich.
»Du siehst aus, als hättest du nicht geschlafen«, sagt er.
»Ich habe eine Bitte«, sage ich.
»Welche denn?«
»Ich würde gerne ›Kafka am Strand‹ hören. Kann man die Platte bekommen?«
»Nicht auf CD?«
»Wenn möglich, wäre mir eine alte Schallplatte lieber. Ich würde gern hören, wie das Lied früher geklungen hat. Aber dazu braucht man einen Plattenspieler.«
Oshima legt den Finger an die Schläfe und überlegt. »Mir
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