Kafka am Strand
wissen, getan hat, schneidet sie sich vor Entsetzen über ihre tiefe Schuld das Haar ab und geht ins Kloster.
Diese geheimnisvolle Geisterwelt repräsentiert letztlich die Dunkelheit in unseren Herzen. Ehe Freud und Jung im 20. Jahrhundert mit ihrer Psychoanalyse Licht ins Dunkel des Unbewussten brachten, war die Einheit der beiden Dunkelheiten eine selbstverständliche Tatsache, über die man nicht groß nachdenken musste, und man hat nicht einmal eine Metapher daraus gemacht. Noch früher kam den Menschen nicht einmal der Gedanke, das die beiden getrennt sein könnten. Nein, eine solche Trennung existierte gar nicht. Bis Edison das elektrische Licht erfand, war der größte Teil der Menschheit im wortwörtlichen Sinne von schwärzester Dunkelheit umgeben. Und die äußere, physikalische Dunkelheit verband sich mit der inneren, seelischen Dunkelheit zu einem grenzenlosen Einen. Sie waren so –«
Oshima legt beide Handflächen fest aneinander.
»Zu Murasaki Shikibus Lebzeiten gab es parallel zum natürlichen Daseinszustand auch geheimnisvolle Phänomene wie lebende Geister. Sich beide Arten der Dunkelheit als voneinander getrennt zu denken, war den Menschen jener Zeit vermutlich unmöglich. Aber in unserer Welt ist das nicht mehr so. Die Dunkelheit der äußeren Welt ist nahezu verschwunden, während die dunklen Sphären der Seele geblieben sind. Das, was wir Ich und Bewusstsein nennen, liegt wie ein Eisberg zum größten Teil im Reich der Dunkelheit unter der Oberfläche. Diese Entfremdung führt manchmal zu tiefen Widersprüchen und Verwirrung in uns.«
»Um Ihre Berghütte herrscht noch echte Dunkelheit.«
»Ja, genau. Dort gibt es sie noch, die wahre Dunkelheit. Manchmal fahre ich sogar bloß hin, um die Dunkelheit zu sehen«, sagt Oshima.
»Sind die Auslöser, aus denen jemand zum lebenden Geist wird, immer negativ?«, frage ich.
»Nicht unbedingt, aber soweit mein unzulängliches Wissen reicht, gehen die Geister von lebenden Personen fast alle aus negativen Gefühlen hervor. Die heftigsten Gefühle von Menschen resultieren meist aus negativen, persönlichen Erfahrungen. Und die lebendigen Geister werden spontan aus ihnen geboren. Leider gibt es keine Beispiele dafür, dass Menschen zu lebendigen Geistern wurden, um Frieden zu stiften oder ein Prinzip durchzusetzen.«
»Und aus Liebe?«
Oshima setzt sich hin und grübelt.
»Das ist eine schwierige Frage, die ich nicht beantworten kann. Ich kann nur sagen, dass ich kein einziges konkretes Beispiel dafür kenne. Hast du mal die Geschichte ›Verabredung zum Chrysanthemenfest‹ in Unter dem Regenmond gelesen?«
Ich verneine.
»Ueda Akinari hat seine Geschichten unter dem Regenmond in der späten Edo-Zeit geschrieben, in der Zeit des Bürgerkriegs, und er hat einen gewissen Hang zu Nostalgie und zur Verklärung der Vergangenheit.
Also: Zwei Samurai werden Freunde und schließen Blutsbrüderschaft, eine für die Samurai höchst bedeutsame Beziehung, denn durch diesen Schwur vertrauten sie einander ihr Leben an. Das hieß, einer würde für den anderen aus freien Stücken sein Leben hingeben.
Die beiden Freunde stammen aus weit voneinander entfernten Orten und dienen verschiedenen Herren. Beim Abschied verspricht der eine Samurai seinem Freund, zum Chrysanthemenfest zu ihm zurückzukehren. Er werde alles vorbereiten und auf ihn warten, sagt der andere. Aber der scheidende Samurai wird in Clankämpfe verwickelt und gefangen gesetzt. Er darf weder ausgehen noch Briefe versenden. Der Sommer geht zu Ende, der Herbst kommt und mit ihm das Chrysanthemenfest. Der Samurai kann das dem Freund gegebene Versprechen nicht halten, doch für die Samurai war ein Versprechen wichtiger als alles andere. Treue war wichtiger als das eigene Leben. Also begeht der Samurai Harakiri, und sein Geist macht sich auf den weiten Weg zu dem Freund. Noch rechtzeitig zum Chrysanthemenfest trifft er ein, erzählt seinem Freund alles – und verschwindet vom Erdboden. Eine sehr schöne Geschichte.«
»Aber er musste sich töten, um zum Geist zu werden.«
»Genau das ist es«, sagt Oshima. »Anscheinend kann ein Mensch nicht um der Treue, der Liebe oder der Freundschaft willen zum lebendigen Geist werden. Dafür muss er sterben. Ein Mensch gibt für die Treue, die Liebe oder die Freundschaft sein Leben auf und wird zum Geist. Die Möglichkeit, zu Lebzeiten zum Geist zu werden, ist meines Wissens an böse Absichten gebunden. An eine negative Idee.«
Ich grüble über seine Worte
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