Kafka am Strand
Menschen berührt hat.
Ich begnüge mich mit einem einfachen Abendessen aus dem, was im Kühlschrank ist. Dann lege ich »Kafka am Strand« noch einmal auf. Mit geschlossenen Augen stelle ich mir vor, wie Saeki-san als Neunzehnjährige im Studio am Klavier sitzt und ihr Lied singt. Ich denke an die warmen Gefühle, die sie damals hegte. Und daran, dass sinnlose Gewalt diese Gefühle so abrupt zerstört hat.
Als die Platte endet, hebe ich den Saphir an und setze ihn am Anfang wieder auf.
Nach mehrmaligem Hören gelange ich allmählich zu der Überzeugung, dass Saeki-san den Text zu »Kafka am Strand« in diesem Zimmer geschrieben haben muss. Kafka am Strand ist der Junge auf dem Gemälde an der Wand. Ich setze mich auf den Stuhl und stütze das Gesicht in die Hände, so wie sie es in der vergangenen Nacht getan hat, und richte meinen Blick im gleichen Winkel auf die Wand. Er fällt auf das Gemälde. Kein Zweifel. Sie hat in diesem Zimmer vor dem Bild gesessen und die Verse zu »Kafka am Strand« geschrieben, während sie an den Jungen dachte. Vielleicht zu nächtlicher Stunde.
Ich gehe zur Wand und schaue mir das Bild noch einmal ganz aus der Nähe an. Der Junge blickt in die Ferne. Seine Augen haben eine rätselhafte Tiefe. An einem Teil des Himmels, in den er schaut, zeichnen sich ein paar deutlich umrissene Wolken ab. Die größte von ihnen hat unübersehbar die Form einer liegenden Sphinx. Die Sphinx – fällt mir ein -wird vom jungen Ödipus besiegt. Sie gibt ihm ein Rätsel auf, und er löst es. Als das Ungeheuer sich geschlagen sieht, tötet es sich, indem es sich von seinem Felsen stürzt. Durch seinen Sieg wird Ödipus König von Theben und heiratet die Königin, die seine eigene Mutter ist.
Ich vermute, dass Frau Saeki die rätselhafte Einsamkeit, die den Jungen auf dem Bild umgibt, in Beziehung zu Kafkas Erzählwelt gesehen hat. Deshalb wurde der Junge für sie zu »Kafka am Strand«. Eine einsame Seele, die an einem absurden Meeresufer umherirrt. Darin lag vielleicht die Bedeutung des Namens Kafka.
Doch nicht nur der Name und die Sphinx erscheinen mir wie Anspielungen auf meine Situation. Die Zeile »vom Himmel fallen kleine Fische« entspricht dem Umstand, dass im Einkaufsviertel von Nakano Sardinen und Makrelen vom Himmel gefallen sind.
»Der Schatten wird zum Messer / und durchbohrt deine Träume« scheint auf den Mord an meinem Vater mit einem Messer hinzudeuten. Ich schreibe den Text Zeile für Zeile in mein Heft und lese ihn immer wieder. Die Stellen, die mich beschäftigen, unterstreiche ich mit Bleistift. Doch am Ende bleibt alles verschwommen, und ich bin ratlos.
»Im Schatten der Tür stehen Worte, die ihre Zeichen verloren. Die Finger des ertrunkenen Mädchens betasten den Stein am Eingang. Draußen vor dem Fenster stehn Soldaten, die Herzen gehärtet.«
Was können diese Verse nur bedeuten? Ob die mutmaßlichen Übereinstimmungen vielleicht nicht mehr sind als ein suggestiver Zufall? Ich gehe zum Fenster und schaue in den Garten. Draußen beginnt es zu dämmern. Ich setze mich auf einen Sessel im Lesesaal und schlage Tanizakis Übersetzung der Geschichte vom Prinzen Genji auf. Um zehn gehe ich ins Bett, lösche die Nachttischlampe und schließe die Augen. Und warte auf Saeki-sans Rückkehr als fünfzehnjähriges Mädchen.
24
Als der Bus aus Kobe vor dem Bahnhof in Tokushima hielt, war es bereits acht Uhr abends.
»Siehst du, Nakata, jetzt sind wir in Shikoku.«
»Jawohl. Das war eine wunderbare Brücke. Nakata hat zum ersten Mal eine so große Brücke gesehen.«
Die beiden stiegen aus, setzten sich vor dem Bahnhof auf eine Bank und blickten eine Weile unentschlossen um sich.
»Und? Was sagt das Orakel? Wohin sollen wir gehen und was sollen wir machen?«, fragte Hoshino.
»Nakata weiß noch nicht.«
»Blöd, was?«
Nakata rieb sich lange mit der flachen Hand den Kopf, als würde er über etwas nachdenken.
»Herr Hoshino?«
»Was ist?«
»Entschuldigung, aber Nakata möchte schlafen. Er ist sehr müde. Am liebsten gleich hier auf der Stelle.«
»He, Moment mal«, rief der junge Mann entgeistert. »Was soll ich denn machen, wenn du jetzt hier einpennst? Kannst du noch wach bleiben, bis wir was zum Übernachten gefunden haben?«
»Jawohl. Nakata kann noch ein bisschen durchhalten.«
»Und was ist mit Abendessen?«
»Nakata braucht keins. Will nur schlafen.«
Eilig erkundigte Hoshino sich in der Touristeninformation nach einer preiswerten Unterkunft mit Frühstück
Weitere Kostenlose Bücher