Kafka am Strand
nach.
»Aber wie du sagst, könnte es auch den Fall geben, dass jemand aus leidenschaftlicher Liebe zu Lebzeiten zum Geist wird. Ich bin dieser Frage noch nie intensiv nachgegangen. Vielleicht gibt es das«, sagt Oshima. »Da die Liebe jene eine Sache ist, die immer wieder die Welt neu erschafft, wäre alles möglich.«
»Herr Oshima?«, frage ich. »Haben Sie schon einmal geliebt?«
Er mustert mich mit einem erstaunten Blick. »Was denkst du denn? Ich bin weder ein Seestern noch ein Pfefferstrauch. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut. Natürlich habe ich schon geliebt.«
»Das habe ich nicht gemeint.« Ich werde rot.
»Ich verstehe schon«, sagt er lächelnd.
Nachdem Oshima nach Hause gefahren ist, gehe ich in mein Zimmer, schalte die Stereoanlage ein und lege »Kafka am Strand« auf. Ich stelle die 45er Umdrehung ein und setze die Nadel auf. Beim Hören lese ich den Text mit.
KAFKA AM STRAND
Wenn du am Rande der Welt stehst, bin ich in einem toten Vulkan. Im Schatten der Tür stehen Worte, die ihre Zeichen verloren.
Schlafende Eidechsen im Mondschein, vom Himmel ein Regen kleiner Fische. Draußen vor dem Fenster stehn Soldaten, die Herzen gehärtet.
(Refrain)
Auf einem Stuhl am Strand sitzt Kafka und denkt das Pendel, das die Welt bewegt.
Wenn der Kreis des Herzens sich schließt, wird der Schatten der erstarrten Sphinx zum Messer und durchbohrt deinen Traum.
Die Finger des ertrunkenen Mädchens betasten den Stein am Eingang.
Sie hebt den Saum ihres blauen Kleides und sieht Kafka am Strand.
Dreimal höre ich mir die Platte an. Zuerst frage ich mich sogar, warum eine Melodie mit einem solchen Text zu einem so großen Hit wurde, dass über eine Million Platten davon verkauft wurden. Die verwendete Sprache ist zwar nicht kompliziert, aber sehr symbolhaft und surrealistisch. Jedenfalls ist es kein Lied, das sich jeder sofort merkt und mitsummt. Aber nach mehrmaligem Hören bekommen die Verse allmählich einen vertrauten Klang. Wort für Wort finden sie ihren Weg zu meinem Herzen und halten dort Einzug. Es ist ein seltsames Gefühl. Bilder, die den Wortsinn überschreiten, tauchen auf wie Scherenschnitte und verselbständigen sich. Wie im tiefsten Traum.
Doch das Wunderbarste ist die Melodie – eine schöne, unverschnörkelte Weise, dabei keineswegs banal. Und Saeki-sans Stimme verschmilzt bruchlos und ohne jede Fremdheit mit der Melodie. Für eine professionelle Sängerin ist ihr Stimmvolumen nicht ausreichend, und es fehlt ihr auch an Technik. Aber ihre Stimme benetzt mein Bewusstsein so sanft wie ein Frühlingsregen die Trittsteine im Garten. Sie begleitet sich selbst am Klavier. Das kurze Stück mit den Streichern und der Oboe wurde vielleicht erst später hinzugefügt. Wahrscheinlich lag das am Budget, denn das Arrangement ist für damalige Verhältnisse sehr schlicht und ohne alles Überflüssige, daher wirkt es umso frischer.
Außerdem treten im Refrainteil zwei seltsame Akkorde auf. Alle Tonfolgen außer diesen beiden Akkorden sind schlicht und gängig, während diese unerwartet frisch und unverbraucht klingen. Ihren Aufbau kann ich nicht heraushören. Doch als ich sie zum ersten Mal höre, bin ich einen Moment lang verwirrt. Übertrieben ausgedrückt, befällt mich sogar das Gefühl, überlistet zu werden. Die abrupte Andersartigkeit der Töne erschüttert und verstört mich. Als hätte mich unversehens aus irgendeinem Spalt ein kalter Windzug angeweht. Aber als der Refrain zu Ende ist, setzt wieder die schöne Anfangsmelodie ein, und ich werde in die ursprüngliche Welt der Harmonie und Vertrautheit zurückversetzt. Der Wind hat sich gelegt. Kurz darauf endet das Lied, der letzte Klavierakkord wird angeschlagen, die Streicher halten sanft den Ton, und die Oboe lässt die Melodie ausklingen.
Während ich »Kafka am Strand« immer wieder höre, beginne ich doch zu verstehen, wie dieses Lied die Herzen so vieler Menschen gewinnen konnte. Es stellt eine freimütige, liebenswerte Kombination von natürlichem Talent und Bescheidenheit dar, genau die Mischung, die das Wort »wunderbar« bezeichnet. Ein neunzehnjähriges Mädchen aus einer Provinzstadt schreibt in Gedanken an ihren fernen Geliebten ein Lied, komponiert am Klavier eine Melodie dazu und singt es ohne jede Affektiertheit. Sie hat das Lied nicht für andere, sondern nur für sich selbst geschrieben. Um ihr Herz ein wenig zu wärmen. Diese Unschuld ist es, die sacht, aber nachdrücklich die Herzen der
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