Kafka am Strand
ein von deiner Libido geschaffenes Phantom«, sagt Oshima lächelnd. »Es gibt seltsame Dinge auf dieser Welt. Wahrscheinlich ist so was bei einem gesunden heterosexuellen Jungen in deinem Alter gar nicht ungewöhnlich.«
Als mir wieder einfällt, dass Oshima mich in den Bergen nackt gesehen hat, werde ich noch röter.
In der Mittagspause übergibt Oshima mir verstohlen einen viereckigen Umschlag mit der Single »Kafka am Strand«.
»Meine Mutter hatte sie tatsächlich. Übrigens hat sie noch fünf Stück davon. Sie hebt alles auf. Sie kann einfach nichts wegwerfen. Eine lästige Angewohnheit, aber in diesem Fall sehr nützlich.«
Ich bedanke mich.
Auf meinem Zimmer nehme ich die Platte aus dem Umschlag. Wahrscheinlich hat sie irgendwo unbenutzt herumgelegen, denn sie sieht erstaunlich neu aus. Als Erstes schaue ich mir das Foto auf der Hülle an. Frau Saeki im Alter von neunzehn Jahren. Sie sitzt vor einem Klavier im Aufnahmestudio und blickt in die Kamera. Einen Arm hat sie auf den Notenständer gestützt, die Wange ruht in ihrer Hand, der Kopf ist leicht zur Seite geneigt, und auf ihrem Gesicht liegt ein schüchternes, aber natürliches Lächeln. Ihre Lippen sind geschlossen, und in den Mundwinkeln bilden sich reizende kleine Fältchen. Sie scheint nicht geschminkt zu sein. Eine Plastikspange in ihrem Haar verhindert, dass es ihr in die Stirn fällt. Ihr rechtes Ohr schaut ein bisschen zwischen den Haaren hervor. Sie trägt ein kurzes, locker sitzendes, einfarbiges Kleid. Dunkelblau. Als einziges Schmuckstück ziert ein silbernes Armband ihr linkes Handgelenk. Ihr hübschen Füße sind nackt. Die zierlichen Sandalen liegen neben dem Klavierschemel.
Sie sieht aus wie ein Symbol – vielleicht für eine Zeit oder einen Ort. Und für einen Seelenzustand. Sie wirkt wie eine Elfe, die ein glücklicher Zufall erweckt hat. Eine unzerstörbare, naive, unschuldige Aura umschwebt sie wie Frühlingssporen. Auf dem Foto ist die Zeit stehen geblieben. 1969 – das war lange vor meiner Geburt.
Natürlich habe ich von Anfang an gewusst, dass das Mädchen in der vergangenen Nacht Saeki-san war. Eigentlich habe ich keinen Moment daran gezweifelt. Ich wollte mich nur vergewissern.
Auf dem Foto ist sie neunzehn, und ihre Züge sind ein bisschen erwachsener und reifer als die der Fünfzehnjährigen. Die Konturen ihres Gesichts sind etwas schärfer geworden, die leichte Unsicherheit ist verschwunden. Im Großen und Ganzen lässt sich jedoch sagen, dass sie mit neunzehn fast genauso aussieht wie mit fünfzehn. Das Lächeln ist das gleiche wie bei dem Mädchen, das ich in der Nacht gesehen habe, und auch die Art, wie sie das Gesicht in die Hände stützt und den Kopf neigt, ist die gleiche. Ihre Züge und ihre Gestalt sind gleich geblieben. Unnötig zu betonen, dass diese Eigenschaften auf die gegenwärtige Frau Saeki übergegangen sind. In ihrer heutigen Erscheinung vermag ich deutlich die Neunzehn- und die Fünfzehnjährige zu erkennen. Die regelmäßigen Züge und die entrückte Elfenhaftigkeit sind noch immer da. Dass sie sich so wenig verändert hat, beglückt mich.
Dennoch dokumentiert das Foto auf der Plattenhülle eine Frische, die Frau Saeki in mittleren Jahren verloren gegangen ist. Sie verströmt eine nicht sofort ins Auge springende Energie, transparent und farblos wie klares Wasser, das fast unbemerkt zwischen Felsen hervorsprudelt. Sie ist der pure, natürliche Appell, der jedermann zu Herzen gehen muss. Diese Energie erzeugt ein besonderes Leuchten, das die gesamte Gestalt des neunzehnjährigen Mädchens umgibt. Man braucht nur das Lächeln auf ihren Lippen zu betrachten, um dem schönen Pfad zu ihrem glücklichen Herzen folgen zu können, so sichtbar wie die Lichtspur, die ein Glühwürmchen im Dunkeln nach sich zieht.
Die Plattenhülle in der Hand setze ich mich auf die Bettkante und lasse die Zeit verstreichen, ohne an etwas zu denken. Dann öffne ich die Augen, gehe ans Fenster und atme tief die Luft ein. In der Brise, die vom Kiefernwäldchen herüberbläst, liegt der Geruch des Meeres. Ohne jeden Zweifel war das Mädchen, das ich in der vergangenen Nacht in meinem Zimmer gesehen habe, Saeki-san als Fünfzehnjährige, obwohl sie heute natürlich noch am Leben ist, eine mehr als Fünfzigjährige, die eine reale Existenz in der realen Welt führt. Wahrscheinlich arbeitet sie sogar im Augenblick an ihrem Schreibtisch im ersten Stock. Würde ich mein Zimmer verlassen und hinaufgehen, könnte ich sie sehen.
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