Kafka am Strand
Mondes. Eigentlich müsste es windig sein, aber kein Rauschen ist zu hören.
»Saeki-san«, sage ich abermals, von einem unwiderstehlichen Drang getrieben.
Sie nimmt die Hände vom Kinn und legt die rechte auf ihren Mund, wie um zu sagen »sprich nicht«. Aber will sie das wirklich sagen? Könnte ich ihr nur richtig in die Augen sehen, aus ihnen lesen, was sie denkt und fühlt. Verstehen, was sie mir mit ihrem Verhalten zu vermitteln versucht, was sie andeutet. Doch es scheint, als würde jeder Sinn von der tiefen Dunkelheit, die gegen drei Uhr morgens herrscht, verschlungen. Plötzlich kann ich nicht mehr atmen und schließe die Augen. Ein harter Klumpen Luft hat sich in meiner Brust verfangen. Als hätte ich eine Regenwolke verschluckt. Als ich nach einigen Sekunden die Augen wieder öffne, ist sie bereits verschwunden. Nur der leere Stuhl ist noch da. Wolkenschatten gleiten über den Schreibtisch.
Ich stehe auf und gehe zum Fenster. Während ich zum Nachthimmel hinaufschaue, denke ich über die Unwiederbringlichkeit der Zeit nach, über Flüsse und über das Meer, über den Wald und über hervorsprudelnde Wasser. Über Regen und Gewitter. Über Felsen, über Schatten. Sie alle sind ein Teil von mir.
Am nächsten Tag erscheint in der Bibliothek ein Kriminalbeamter in Zivil. Da ich mich in mein Zimmer zurückgezogen habe, bemerke ich nichts davon. Nachdem der Beamte Oshima ungefähr zwanzig Minuten lang befragt hat und wieder gegangen ist, kommt Oshima zu mir ins Zimmer, um mir Bericht zu erstatten.
»Es war ein Kommissar von der hiesigen Polizei. Er hat nach dir gefragt.« Oshima öffnet den Kühlschrank, nimmt eine Flasche Perrier heraus, öffnet sie und gießt sich ein Glas ein.
»Woher wusste er denn, dass ich hier bin?«
»Du hast ein Mobiltelefon benutzt, das deinem Vater gehörte.«
Es fällt mir wieder ein, und ich nicke. In der Nacht, als ich mit dem blutigen Hemd in dem Waldstück hinter dem Schrein aufgewacht bin, habe ich Sakura mit dem Handy angerufen.
»Nur einmal«, sage ich.
»Durch die Aufzeichnung dieses Telefonats hat die Polizei erfahren, dass du in Takamatsu bist. Normalerweise erklären die Beamten so etwas nicht so genau, aber bei einem Schwätzchen habe ich es aus ihm rausgekriegt. Ich kann nämlich sehr liebenswürdig sein, wenn ich will. Aber der Teilnehmer, den du angerufen hast, war nicht zu ermitteln. Wahrscheinlich ein Prepaid-Handy. Immerhin wissen sie, dass du in Takamatsu bist, und die örtliche Polizei hat bereits alle Übernachtungsmöglichkeiten überprüft und herausgefunden, dass in einem mit dem YMCA verbundenen Businesshotel kurzzeitig ein Junge gewohnt hat, auf den deine Beschreibung passt. Bis zum 28. Mai. Das war der Tag, an dem dein Vater erstochen wurde.«
Zum Glück ist es der Polizei nicht gelungen, Sakura durch das Telefongespräch ausfindig zu machen. Ich hätte ihr wirklich ungern noch mehr Ungelegenheiten bereitet.
»Der Hotelmanager erinnerte sich noch, dass er sich bei uns über dich erkundigt hat. Er hat mal angerufen, um sich zu vergewissern, ob du wirklich jeden Tag herkommst. Weißt du noch?«
Ich nicke.
»Deswegen ist die Polizei auch hergekommen.«
Oshima trinkt von seinem Perrier. »Natürlich habe ich gelogen und gesagt, dass du nach dem 28. nicht mehr hier gewesen seist. Bis dahin seist du jeden Tag hergekommen, hättest dich aber seit dem bewussten Datum nicht mehr blicken lassen.«
»Die Polizei anzulügen kann schlimme Folgen haben«, sage ich.
»Aber wenn ich nicht gelogen hätte, wären die Folgen für dich vielleicht noch schlimmer ausgefallen.«
»Ich will Sie doch nicht in Schwierigkeiten bringen.«
Die Augen zu einem Spalt verengt, lacht Oshima. »Du weißt es nicht, aber du hast mich schon in Schwierigkeiten gebracht.«
»Natürlich, aber –«
»Also lassen wir die Diskussion über Schwierigkeiten. Die sind jetzt da, und es führt zu nichts, weiter darüber zu reden.«
Wortlos nicke ich.
»Der Kommissar hat mir für alle Fälle seine Karte dagelassen. Falls du noch mal auftauchst, soll ich ihn anrufen.«
»Werde ich verdächtigt?«
Oshima schüttelt langsam den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Aber du bist zweifellos ein wichtiger Zeuge, was den Mord an deinem Vater angeht. Ich habe den Fall in der Zeitung verfolgt. Es sieht so aus, als kämen die Ermittlungen nicht richtig voran. Die Polizei scheint ungeduldig zu werden. Es gibt weder Fingerabdrücke noch andere Spuren. Der Einzige, der Spuren hinterlassen hat, bist du.
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