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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sie auch nicht erschöpft, so wie wir es uns vorstellen. Aber da wir Menschen sind, ermüden wir von Fall zu Fall.«
    »Sitzen Sie auf einem Ast, Saeki-san?«
    »Hin und wieder«, sagt sie. »Und manchmal bläst ein starker Wind.«
    Sie stellt die Tasse auf die Untertasse und schraubt ihren Füller auf. Es wird Zeit für mich zu gehen. Ich stehe auf.
    »Ich würde Sie gern etwas fragen«, sage ich tapfer.
    »Ist es etwas Persönliches?«
    »Ja. Vielleicht ist es aufdringlich.«
    »Aber es ist eine wichtige Frage?«
    »Ja, sehr wichtig für mich.«
    Sie legt ihren Füller wieder ab. In ihren Augen ist ein unbestimmtes, neutrales Licht.
    »Gut, dann frag mich.«
    »Haben Sie Kinder?«
    Sie holt Atem und hält ihn kurz an. Langsam weicht jeder Ausdruck aus ihrem Gesicht und kehrt dann wieder zurück. Wie eine Parade, die nach einer gewissen Zeit wieder dieselbe Straße zurückgeht.
    »Warum möchtest du das wissen?«
    »Ich habe ein persönliches Problem. Ich frage nicht nur einfach so.«
    Sie nimmt den dicken Montblanc-Füller, überprüft die Tintenmenge und wiegt ihn in der Hand, wie um sein Gewicht abzuschätzen. Sie legt ihn auf den Tisch zurück und hebt den Kopf.
    »Es tut mir leid, aber ich kann deine Frage weder mit Ja noch mit Nein beantworten. Zumindest im Augenblick nicht. Ich bin müde, und der Wind bläst stark.«
    Ich nicke. »Entschuldigen Sie, ich hätte Sie das nicht fragen sollen.«
    »Schon in Ordnung. Du hast nichts Falsches getan«, sagt sie freundlich. »Danke für den Kaffee. Dein Kaffee schmeckt übrigens ausgezeichnet.«
     
    Ich gehe durch die Tür, die Treppe hinunter und in mein Zimmer. Ich setze mich aufs Bett und schlage ein Buch auf, doch die Sätze erreichen meinen Verstand nicht. Nur mit den Augen folge ich den sich aneinander reihenden Zeichen, als würde ich eine zufällige Reihe von Zahlen betrachten. Ich lege das Buch beiseite, trete ans Fenster und schaue in den Garten. Vögel sitzen in den Zweigen der Bäume, aber es weht kein Wind. Allmählich weiß ich nicht mehr, ob ich Saeki-san in ihrer Gestalt als fünfzehnjähriges Mädchen liebe oder in ihrer gegenwärtigen Gestalt als über fünfzigjährige Frau. Die Grenze zwischen den beiden verschwimmt, wird dünner, kann die Form nicht wahren. Das verwirrt mich. Ich schließe die Augen und suche nach einer Achse in meinen Gefühlen.
    Ganz recht. Es ist, wie Saeki-san sagt. Ihr Gesicht und ihre Gestalt sind mir an jedem Tag besonders und wertvoll.

28
    Colonel Sanders war für sein Alter recht behende und hatte einen schnellen Schritt. Wie ein erfahrener Geher. Zudem schien er die Stadt zu kennen wie seine Westentasche. Um abzukürzen, stieg er dunkle, enge Treppen hinauf und zwängte sich zwischen Häusern hindurch. Er sprang über Gräben und beschimpfte dabei beiläufig hinter den Hecken kläffende Hunde. Flink wie ein ungeduldiger Geist auf der Suche nach seinem angestammten Ort bewegte sich der schmächtige weiße Rücken seines Anzugs durch die Gassen der Stadt. Hoshino musste sich anstrengen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei geriet er außer Atem und war schweißnass unter den Achseln. Colonel Sanders vergewisserte sich nicht ein einziges Mal, ob der junge Mann noch hinter ihm war.
    »He, Colonel, ist es noch weit?«, rief Hoshino hinter ihm her, als er nicht mehr konnte.
    »Du bist doch noch jung, ein Stückchen wirst du doch wohl gehen können?«, sagte Colonel Sanders, ohne sich auch nur umzudrehen.
    »Aber ich bin doch der Kunde. Wenn Sie mich so rennen lassen, bin ich nachher zu kaputt für Sex.«
    »Du bist vielleicht ein Schlappschwanz. Bist du überhaupt ein Mann? Bei einer so unzuverlässigen Libido kann man es ja gleich lassen.«
    »Na, na«, sagte der junge Mann.
    Sie überquerten eine Brücke und betraten den Hof eines Schreins. Er war ziemlich groß, aber da es schon spät war, lag das Gelände wie ausgestorben da. Colonel Sanders zeigte auf eine Bank vor dem Schreinbüro und bedeutete Hoshino, er solle sich dorthin setzen. Neben der Bank stand eine große Quecksilberdampflaterne, die die Umgebung taghell erleuchtete. Als der junge Mann gehorsam auf der Bank Platz genommen hatte, ließ Colonel Sanders sich neben ihm nieder.
    »He, Colonel, hier kann man es doch nicht treiben, oder?«, sagte Hoshino verunsichert.
    »Red keinen Quatsch. Außer den Hirschen von Miyajima rammelt ja wohl keiner in einem Schrein, was? Wofür hältst du mich?«
    Colonel Sanders zog ein silberfarbenes Handy aus der Tasche und

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