Kafka am Strand
Die müssen dich also unter allen Umständen finden. Schließlich war dein Vater ein berühmter Mann, und der Fall wird vom Fernsehen und der Presse groß aufgemacht. Schon deshalb kann die Polizei nicht einfach tatenlos bleiben.«
»Aber wenn rauskommt, dass Sie die Polizei angelogen haben und aus diesem Grund als Zeuge nicht glaubwürdig sind, ist mein Alibi im Eimer. Vielleicht gerate ich so in Verdacht.«
Oshima schüttelt wieder den Kopf. »Mein lieber Kafka, so dumm ist die japanische Polizei nun auch wieder nicht. Man kann vielleicht nicht sagen, dass sie vor Fantasie sprüht, aber zumindest ist sie nicht inkompetent. Bestimmt haben sie längst die Passagierlisten der Flüge zwischen Tokyo und Shikoku überprüft. Außerdem – das weißt du vielleicht nicht – sind an den Flugsteigen Videokameras installiert, die jeden ankommenden und abfliegenden Passagier aufnehmen und somit hundertprozentig bestätigen, dass du nicht nach Tokyo geflogen bist. In Japan werden solche Daten genau kontrolliert. Darum hält die Polizei dich auch nicht für den Täter. Sonst wäre ja auch nicht nur ein Provinzpolizist hier aufgetaucht, sondern gleich ein Kommissar aus dem Hauptstadtpräsidium. Er wäre auch ernster gewesen und hätte sich nicht so leicht von mir abspeisen lassen. Im Augenblick wollen sie dich bloß persönlich zu den näheren Umständen vor und nach dem Mord befragen.«
So gesehen hat Oshima sicher Recht.
»Jedenfalls lässt du dich lieber eine Weile nicht blicken«, sagt er.
»Möglicherweise patrouillieren Beamte in der Nachbarschaft und beschatten die Bibliothek. Sie haben ein Foto von dir, einen Abzug aus einem Schülerverzeichnis deiner Mittelschule. Sehr ähnlich sieht es dir nicht gerade. Du machst ein total saures Gesicht.«
Es ist das einzige Foto, das ich zurückgelassen habe. Ich habe alles getan, um jede Gelegenheit, bei der Fotos gemacht wurden, zu umgehen, aber vor den Klassenfotos hatte ich mich nicht drücken können.
»Der Beamte hat gesagt, du seist in der Schule so etwas wie ein Problemkind gewesen. Es habe Gewalttätigkeiten gegen Mitschüler gegeben, und du seist dreimal von der Schule ausgeschlossen worden.«
»Zweimal. Und außerdem bin ich nicht ausgeschlossen worden, sondern hatte Hausarrest«, sage ich. Ich hole tief Luft und atme langsam aus. »Es gibt Zeiten, in denen mir so etwas passiert.«
»In denen du dich nicht unter Kontrolle hast?«, sagt Oshima.
Ich nicke.
»Hast du jemanden verletzt?«
»Nicht mit Absicht. Aber manchmal habe ich das Gefühl, als wäre in mir noch ein anderer. Und ehe ich mich versehe, ist es passiert.«
»Wie schwer?«, fragt Oshima.
Ich seufze. »Nicht ernsthaft. Bisher habe ich keinem die Knochen gebrochen oder die Zähne eingeschlagen.«
Oshima setzt sich aufs Bett und schlägt die Beine übereinander. Er streicht sich die Haare zurück. Dunkelblaue Chinos, weiße Adidas-Turnschuhe und ein schwarzes Polo-Hemd.
»Anscheinend hast du jede Menge Probleme zu lösen«, sagt er.
Probleme zu lösen. Ich schaue auf. »Haben Sie keine ungelösten Probleme, Herr Oshima?«
Oshima hebt beide Hände. »Es gibt nur ein Problem, das ich lösen muss, eine Sache, die ich tun muss. Und das ist, mit diesem defizitären Körper, meinem nutzlosen Gefäß, von einem Tag zum nächsten zu überleben. Eine Aufgabe, die in einer Hinsicht leicht und in anderer schwer ist. Und wenn ich es schaffe, gilt es nicht einmal als große Leistung. Niemand springt begeistert auf und applaudiert mir.«
Ich beiße mir auf die Lippen.
»Denken Sie darüber nach, Ihr Gefäß zu verlassen?«
»Meinen Körper zu verlassen?«
Ich nicke.
»Im übertragenen Sinne oder konkret?«
»Beides«, sage ich.
Oshima streicht sich mit beiden Händen die Haare straff zurück und entblößt seine weiße Stirn. Sie sieht aus, als liefen dahinter die Zahnräder seines Verstandes auf vollen Touren.
»Möchtest du das denn?« Statt zu antworten, stellt Oshima mir da eine Gegenfrage.
Ich hole tief Luft.
»Herr Oshima, ich sage Ihnen, wie es ist. Mein gegenwärtiges Gefäß gefällt mir überhaupt nicht. Seit meiner Geburt habe ich es kein einziges Mal gemocht. Ich habe es sogar die ganze Zeit gehasst. Mein Gesicht, meine Hände, mein Blut, meine Gene … alles, was ich von meinen Eltern geerbt habe, verabscheue ich. Wenn es ginge, würde ich das Ding am liebsten verlassen. Wie man ein Haus verlässt.«
Oshima sieht mich lächelnd an. »Du hast einen kräftigen, durchtrainierten Körper.
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