Kafka am Strand
kann man doch gar nicht richtig schlafen, kleiner Hoshino.«
Hoshino glotzte sein Gegenüber mit offenem Mund an.
»Wie – sucht? Woher wissen Sie überhaupt, dass ich was suche?«
»Es steht dir auf der Stirn geschrieben. Du bist eine ehrliche Haut, Hoshino. Leuten wie dir kann man alles vom Gesicht ablesen. Für einen, der ein Auge dafür hat, ist dein Kopf wie eine aufgeschnittene Makrele.«
Unwillkürlich hob Hoshino die Hand, rieb sich die Stirn und betrachtete seine Handfläche, aber es war nichts zu sehen. Auf der Stirn geschrieben?
»Nun, das, was du suchst«, sagte Colonel Sanders mit erhobenem Zeigefinger, »ist hart und rund? Stimmt doch, oder?«
Hoshino zog die Brauen zusammen. »Woher wissen Sie das alles überhaupt so genau?«
»Es steht in deinem Gesicht. Sag ich dir doch«, sagte Colonel Sanders und wedelte mit seinem Zeigefinger. »Ich bin nicht umsonst so lange im Geschäft. Und du willst wirklich kein Mädchen?«
»Wir suchen einen Stein, wissen Sie. Er wird Eingangsstein genannt.«
»Oh, den Eingangsstein, den kenne ich gut.«
»Wirklich?«
»Ich lüge nicht. Witze mache ich auch keine. Ich bin von Hause aus ein schlichter, aufrechter Charakter.«
»Dann wissen Sie vielleicht auch, wo dieser Stein ist?«
»Ja, das weiß ich.«
»Dann sagen Sie es mir doch bitte.«
Colonel Sanders legte einen Finger an den schwarzen Rahmen seiner Brille und räusperte sich. »Und du möchtest also wirklich kein Mädchen?«
»Wenn Sie mir sagen, wo der Stein ist, überleg ich’s mir noch mal«, sagte Hoshino skeptisch.
»Gern. Vorher kommst du mit.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, begann Colonel Sanders, energisch die Straße hinunterzumarschieren. Hastig heftete Hoshino sich an seine Fersen.
»Ahem, Colonel … ich hab nur noch 25000 Yen im Portemonnaie.«
Colonel Sanders schnalzte missbilligend mit der Zunge, während er rasch weiter ausschritt. »Das reicht. Dafür kriegst du eine muntere, neunzehnjährige Schöne und unseren Spezialhimmelfahrtsservice … alles inklusive. Blasen, Runterholen, Fickificki, und als Zugabe sage ich dir anschließend, wo der Stein ist.«
»Ich geb mich geschlagen«, sagte der junge Mann.
27
Es ist 2:47, als mir ihre Anwesenheit bewusst wird. Ich sehe auf die Uhr an meinem Kopfende und merke mir die Zeit. Es ist etwas früher als in der Nacht zuvor. Heute bin ich wach geblieben und habe auf ihr Erscheinen gewartet. Von einem gelegentlichen Blinzeln abgesehen habe ich die Augen nicht geschlossen und dennoch den exakten Moment ihres Erscheinens verpasst. Auf einmal ist sie da. Sie muss durch einen toten Winkel meines Bewusstseins ins Zimmer gehuscht sein.
Wieder trägt sie das hellblaue Kleid und betrachtet ruhig, das Kinn in die Hände gestützt, das Bild von »Kafka am Strand«, während ich sie reglos und mit angehaltenem Atem beobachte. Sie, das Bild und ich – diese drei Punkte bilden ein unbewegliches Dreieck im Raum. So wenig wie sie müde wird, das Bild zu betrachten, werde ich müde, sie anzusehen.
»Saeki-san.« Ohne es zu wollen, sage ich ihren Namen. Mein Herz ist so voll, dass es überquillt und sich mit Worten Gehör verschafft. Meine Stimme ist sehr leise, dennoch hat sie Saeki-san erreicht, und eine Seite des reglosen Dreiecks bricht ab. Habe ich mir das insgeheim gewünscht? Oder gerade nicht?
Sie schaut in meine Richtung, aber ihr Blick ist nicht zielgerichtet. Sie dreht nur leicht das Gesicht, stützt aber weiter das Kinn in die Hände. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber ich spüre ein leichtes Vibrieren der Luft. Ich weiß auch nicht, ob Saeki-san mich sehen kann. Aber ich will, dass sie mich ansieht. Sie soll merken, dass ich lebe und hier bin.
»Saeki-san«, wiederhole ich. Der Wunsch, ihren Namen auszusprechen, ist in mir so stark, dass ich ihn einfach nicht unterdrücken kann. Vielleicht wird sie sich vor meiner Stimme fürchten oder aus Vorsicht das Zimmer verlassen. Und vielleicht nie mehr wiederkommen. Dann wäre ich am Boden zerstört. Nein, am Boden zerstört ist gar kein Ausdruck. Ich würde damit jeden Sinn und jede Orientierung verlieren. Und dennoch kann ich es nicht lassen, ihren Namen zu sagen. Meine Zunge und meine Lippen gehorchen mir nicht und formen unweigerlich immer wieder ihren Namen.
Sie schaut nicht mehr auf das Bild. Sie sieht mich an. Zumindest hat sie den Blick auf die Stelle gerichtet, an der ich mich befinde, doch ich kann ihre Miene nicht deuten. Mit dem Ziehen der Wolken kommt und geht das Licht des
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