Kafka am Strand
Und irgendjemand hat dir auch ein ganz nettes Gesicht vererbt. Na ja, um gut aussehend zu sein, ist es vielleicht ein bisschen zu prägnant, aber gar nicht übel. Mir gefällst du zumindest. Aufgeweckt bist du auch. Und dein Schwanz kann sich auch sehen lassen. So einen hätte ich auch gern. Bestimmt träumen eine Menge Mädchen von dir. Ich verstehe eigentlich nicht, warum du unzufrieden bist mit deinem gegenwärtigen Gefäß.«
Ich werde rot.
»Schon gut. Das scheint nicht dein Problem zu sein. Warum ich mein gegenwärtiges Gefäß nicht mag, liegt auf der Hand. Wie man es auch dreht und wendet, das Ding ist nicht normal. Aus praktischer Sicht ist es eindeutig grauenhaft unpraktisch. Trotz allem denke ich im Grunde Folgendes: Wenn wir uns unser Äußeres und inneres Wesen vertauscht denken – also uns das Wesen als das Äußere vorstellen und umgekehrt – dann wird doch der Sinn unseres Daseins besser verständlich, nicht wahr?«
Ich betrachte wieder meine Hände. An ihnen war eine Menge Blut gewesen, und ich erinnere mich noch ganz deutlich an das klebrige Gefühl. Ich denke über mein Äußeres und mein inneres Wesen nach, über mein inneres Ich, das von meiner äußeren Hülle umschlossen ist. Doch ich kann nur daran denken, wie sich das Blut angefühlt hat. Für etwas anderes ist in meinem Kopf kein Platz.
»Wie ist es mit Saeki-san?«, frage ich.
»In welcher Hinsicht?«
»Hat sie auch ein Problem zu lösen?«
»Das solltest du sie lieber selbst fragen«, sagt Oshima.
Um zwei Uhr bringe ich Frau Saeki auf einem Tablett ihren Kaffee. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch im ersten Stock. Die Tür steht offen. Auf dem Schreibtisch liegen wie gewohnt Manuskriptpapier und Füller, aber seine Kappe ist zugeschraubt. Beide Hände auf dem Tisch, starrt Frau Saeki in die Luft. Ihr Blick ist auf nichts Bestimmtes gerichtet. Sie sieht ein bisschen müde aus. Das Fenster hinter ihr ist geöffnet, sodass die frühsommerliche Brise die weißen Spitzenvorhänge bläht. Die Szene wirkt wie ein schönes, allegorisches Gemälde.
»Danke«, sagt sie, als ich den Kaffee auf den Schreibtisch stelle.
»Sie sehen müde aus.«
Sie nickt. »Ja, nicht wahr? Wenn ich müde bin, sehe ich immer alt aus.«
»Das stimmt nicht. Sie sind so schön wie immer«, sage ich aufrichtig.
Frau Saeki lacht. »Für dein Alter kannst du recht gut mit Frauen umgehen.«
Das Blut steigt mir ins Gesicht.
Sie deutet auf den Stuhl, auf dem ich schon gestern gesessen habe. Er steht noch am selben Platz. Ich setze mich.
»Ich bin ziemlich oft müde. Du wahrscheinlich nicht.«
»Nein.«
»Mit fünfzehn war ich das natürlich auch nicht.«
Sie nimmt die Kaffeetasse und trinkt geräuschlos.
»Kafka – was siehst du da draußen vor dem Fenster?«
Ich schaue aus dem Fenster hinter ihr. »Bäume, Himmel und Wolken. Und ein paar Vögel auf den Ästen.«
»Ein ganz alltäglicher Ausblick wie überall. Oder?«
»Ja.«
»Aber wenn er morgen verschwunden wäre, hätte er einen ganz besonderen Wert für dich, nicht wahr?«
»Ich glaube schon.«
»Hast du über so etwas schon mal nachgedacht?«
»Ja.«
Sie sieht mich überrascht an. »Wann?«
»Seit ich verliebt bin.«
Sie lächelt ein bisschen. Das Lächeln verweilt ein wenig auf ihren Lippen. Es lässt mich an Wasser denken, das jemand an einem Sommermorgen vor der Haustür verspritzt hat und von dem sich ein bisschen in einer kleinen Vertiefung gesammelt hat.
»Du bist also verliebt?«
»Ja.«
»Und ihr Gesicht und ihre Gestalt sind dir jeden Tag gleich wichtig und wertvoll?«
»Ja, und irgendwann verliere ich sie vielleicht.«
Frau Saeki sieht mich einen Moment an. Sie lächelt nicht mehr.
»Ein Vogel sitzt auf einem dünnen Zweig«, sagt sie. »Der Zweig schwankt stark im Wind. Und mit ihm zusammen schwankt auch das Gesichtsfeld des Vogels. Nicht wahr?«
Ich nicke.
»Was macht der Vogel, wie stabilisiert er den visuellen Eindruck?«
Ich schüttle den Kopf. »Das weiß ich nicht.«
»Er hebt und senkt den Kopf mit dem schwankenden Zweig. Hoch, runter. Wenn wir das nächste Mal einen stürmischen Tag haben, kannst du die Vögel beobachten. Durch dieses Fenster schaue ich ihnen oft zu. Findest du nicht, dass so ein Leben sehr anstrengend wirkt? Wenn man bei jedem Schwanken des Astes, auf dem man sitzt, selber mitschwanken muss?«
»Doch.«
»Aber die Vögel sind daran gewöhnt. Für sie ist das eine ganz natürliche Situation, die sie instinktiv zu meistern wissen. Daher sind
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