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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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schlechte Karten. Pass auf, dass du nicht wie Billy the Kid noch als Teenager jämmerlich endest.«
    »Billy the Kid ist nicht als Teenager umgekommen«, verbessere ich sie. »Er hat einundzwanzig Menschen getötet und ist mit einundzwanzig gestorben.«
    »Hm«, sagt sie. »Auch gut. Gibt’s übrigens einen Grund für deinen Anruf?«
    »Ich wollte mich nur bedanken. Du hast mir so geholfen, und ich bin einfach grußlos verschwunden. Das hat mich bedrückt.«
    »Habe ich doch kapiert. Du brauchst dir also keine Gedanken mehr zu machen.«
    »Außerdem wollte ich deine Stimme hören«, sage ich.
    »Das freut mich, aber nützt dir denn meine Stimme was?«
    »Wie soll ich sagen … Es hört sich wahrscheinlich seltsam an, aber du lebst in der Wirklichkeit, atmest wirkliche Luft und sprichst eine wirkliche Sprache. Wenn ich mit dir rede, weiß ich, dass ich immer noch, wie es sich gehört, mit der realen Welt verbunden bin. Das ist ziemlich wichtig für mich.«
    »Ist das bei den Leuten, bei denen du bist, nicht so?«
    »Wahrscheinlich nicht«, sage ich.
    »Versteh ich zwar nicht, aber heißt das, du bist an einem Ort außerhalb der Realität und bei Leuten außerhalb der Realität?«
    Ich überlege. »So könnte man’s wohl ausdrücken.«
    »Hör mal, Kafka«, sagt Sakura. »Natürlich ist es dein Leben, und ich will dir nicht reinreden. Aber das hört sich so an, als solltest du lieber dort verschwinden. Ich weiß ja nicht, was das für ein Ort ist, aber irgendwie habe ich so ein Gefühl. Wie eine Vorahnung. Komm lieber gleich zu mir. Du kannst so lange bei mir wohnen, wie du willst.«
    »Sakura, wieso bist du so nett zu mir?«
    »Du stehst ganz schön auf der Leitung.«
    »Wieso?«
    »Weil ich dich gern habe, was denn sonst. Ich stecke meine Nase ganz gern in die Angelegenheit von anderen, aber das biete ich nicht jedem an. So weit geh ich nur, weil ich dich mag. Ich kann’s nicht gut ausdrücken, aber es ist so, als wärst du wirklich mein kleiner Bruder.«
    Ich schweige ins Telefon. In diesem Moment weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich verspüre einen leichten Schwindel. In meinem ganzen Leben hat noch kein einziges Mal jemand so mit mir gesprochen.
    »Bist du noch da?«, sagt Sakura.
    »Ja, ich höre dich.«
    »Dann sag doch was.«
    Ich fasse mich wieder und atme tief durch.
    »Es wäre schön, wenn das ginge. Das meine ich im Ernst. Von ganzem Herzen. Aber im Moment kann ich nicht. Ich kann hier nicht weg. Zum einen, weil ich verliebt bin.«
    »Du hast dich in eine komplizierte Person verliebt, die du nicht haben kannst, stimmt’s?«
    »Könnte man so sagen.«
    Sakura seufzt wieder ins Telefon. Es ist ein sehr tiefer, fundamentaler Seufzer.
    »Hör mal, in deinem Alter ist es zwar normal, sich unrealistisch zu verlieben, aber es ist noch schlimmer, wenn die Partnerin aus einer ganz anderen Welt kommt. Verstehst du?«
    »Ja.«
    »Du, Kafka?«
    »Ja.«
    »Ruf mich an, wenn irgendetwas ist. Egal, um wie viel Uhr. Du brauchst keine Rücksicht zu nehmen.«
    »Danke.«
    Ich hänge ein und gehe in mein Zimmer. Dort lege ich »Kafka am Strand« auf den Plattenteller und setze die Nadel auf. Lasse mich wieder an jenen Ort ziehen. Und in jene Zeit.
     
    Als ich aufwache, ist mir, als sei jemand im Raum. Das Leuchtzifferblatt der Uhr an meinem Kopfende zeigt drei Uhr. Ich bin versehentlich eingeschlafen. Im schwachen Licht der Gartenlaterne, das durchs Fenster scheint, erblicke ich sie. Wie immer sitzt sie am Schreibtisch und schaut in der gewohnten Haltung auf das Bild an der Wand. Das Kinn in die Hände gestützt, reglos. Wie üblich bleibe ich im Bett liegen, halte den Atem an und betrachte, die Augen nur einen schmalen Spalt geöffnet, ihre Silhouette. Draußen bringt der Wind vom Meer die Zweige des Hartriegelstrauchs vor dem Fenster leise zum Schwanken.
    Bald spüre ich, dass etwas anderes als sonst in der Luft liegt. Ein fremdes Etwas, das die vollkommene Harmonie dieser kleinen Welt leicht, aber nachdrücklich stört. Angestrengt starre ich ins Dämmerlicht. Was ist nur anders? Mit einem Mal frischt der Nachtwind auf, und das Blut in meinen Adern bekommt eine zähe, eigenartige Schwere. Die Zweige des Hartriegelstrauches beschreiben hektische Irrwege auf der Fensterscheibe. Auf einmal begreife ich. Die Silhouette dort ist nicht die des Mädchens. Sie ist ihr nur sehr ähnlich. Man kann sagen, sie ist fast gleich. Aber sie ist es auf keinen Fall. Hier und da weicht sie in Einzelheiten ab, wie wenn man zwei leicht

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