Kafka am Strand
es nicht selbst tun. Deshalb habe ich dich doch eigens hierher mitgenommen. Und es dir dafür dreimal besorgen lassen.«
»Ja, das war schon ein tolles Gefühl … Aber irgendwie traue ich mich nicht. Als ich noch klein war, hat mir mein Großvater immer streng verboten, an einem Schrein Unfug zu machen.«
»Vergiss deinen Großvater. Die Lage ist auch ohne den hinterwäldlerischen Aberglauben von Gifu kompliziert genug. Außerdem drängt die Zeit.«
Widerstrebend und furchtsam öffnete Hoshino die Schreintür, und Colonel Sanders leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Im Innern lag tatsächlich ein alter, runder Stein. Er hatte, wie Nakata es beschrieben hatte, die Form von einem Klebreiskloß und die Größe einer Langspielplatte. Er war weiß und flach.
»Das ist der Stein, oder?«, fragte Hoshino.
»Ja«, sagte Colonel Sanders. »Nimm ihn raus.«
»Moment mal, Colonel. Dann wäre ich ja ein Dieb.«
»Blödsinn. Das merkt doch keiner, wenn so ein Stein fehlt. Wen kümmert das schon?«
»Aber er gehört den Göttern. Die werden bestimmt sauer, wenn den einer unerlaubt wegnimmt.«
Colonel Sanders verschränkte die Arme und starrte Hoshino ins Gesicht. »Was für Götter?«
Hoshino dachte nach.
»Wie sehen sie aus? Was machen sie?«, fuhr Colonel Sanders fort.
»Ich kenne mich mit so was nicht aus. Aber Götter sind Götter. Sie sind überall und sehen, was wir tun. Und richten über Gut und Böse.«
»Dann sind sie wie die Schiedsrichter beim Fußball?«
»Könnte man sagen.«
»Das heißt, sie haben kurze Hosen an, eine Trillerpfeife um den Hals und lassen nachspielen?«
»Sie sind echt eine Plage, Colonel«, sagte Hoshino.
»Sind die japanischen Götter mit den ausländischen verwandt? Oder sind sie deren Feinde?«
»Weiß ich doch nicht.«
»Schon gut, kleiner Hoshino. Götter existieren nur im Bewusstsein der Menschen. Jedenfalls ist man hier in Japan, was die Götter angeht – gute oder böse –, ausgesprochen flexibel. Kaum erhielt der Tenno, der ja vor dem Krieg unbestritten ein Gott war, von McArthur, dem General der Besatzungsmacht, den Befehl ›Hör auf, ein Gott zu sein‹, sagte er auch schon: ›Sehr wohl. Von nun an bin ich ein gewöhnlicher Mensch.‹ Und ist demnach seit 1946 kein Gott mehr. So anpassungsfähig sind die japanischen Götter. Auf den Befehl eines amerikanischen Soldaten mit einer billigen Pfeife und einer Sonnenbrille schaffen sie sich selber ab. So spitzenmäßig postmodern sind die. Wenn es sie geben soll, gibt es sie. Wenn nicht, dann nicht. Jetzt halt dich nicht mit solchen Nebensächlichkeiten auf.«
»Also …«
»Egal, hol jetzt den Stein da raus. Ich übernehme die volle Verantwortung. Auch wenn ich weder Gott noch Buddha bin, habe ich doch ein paar Beziehungen. Ich werde nicht zulassen, dass du verflucht wirst.«
»Übernehmen Sie wirklich die Verantwortung?«
»Ich sag’s nicht zum zweiten Mal«, sagte Colonel Sanders.
Der junge Hoshino streckte die Hände aus und hob den Stein so vorsichtig auf, als wäre er eine Tellermine.
»Der ist total schwer.«
»Steine sind eben schwer. Im Gegensatz zu Tofu.«
»Nein, er ist auch für einen Stein ziemlich schwer«, sagte Hoshino. »Was soll ich damit machen?«
»Mitnehmen und ans Kopfende vom Bett legen. Den Rest überlasse ich dir.«
»Ins Hotel?«
»Wenn er zu schwer ist, kannst du ja ein Taxi nehmen«, sagte Colonel Sanders.
»Aber darf ich ihn denn einfach so weit wegbringen?«
»Klar, kleiner Hoshino. Alle Gegenstände sind Wandlungen unterworfen. Die Erde, die Zeit, die Begriffe, die Liebe, das Leben, die Überzeugungen, die Gerechtigkeit, auch das Schlechte, alles fließt und ist vergänglich. Es gibt nichts, das für die Ewigkeit an einem Ort und in einer Gestalt verharrt. Das ganze Universum ist im Grunde genommen ein gigantischer Paketservice.«
»So?«
»Der Stein existiert hier nur vorübergehend als Stein. Und wenn du ein bisschen dabei hilfst, ihn zu verschieben, ändert sich nichts.«
»Aber wieso ist dieser Stein so wichtig? Er sieht gar nicht besonders großartig aus.«
»Genau genommen, hat der Stein selbst keine Bedeutung. Umständehalber braucht man etwas, und zufällig ist es ein Stein. Der russische Schriftsteller Tschechow hat einmal etwas sehr Kluges gesagt: ›Wenn man im 1. Akt eine Pistole auf die Bühne bringt, muss sie im letzten Akt abgefeuert werden.‹ Verstehst du, was er damit sagen wollte?«
»Nein.«
»Das hab ich mir schon gedacht«, sagte Colonel Sanders.
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