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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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»Eigentlich habe ich auch nur aus Höflichkeit gefragt.«
    »Besten Dank.«
    »Was Tschechow damit sagen will, ist Folgendes: Das Unvermeidliche ist ein Konzept für sich, dessen Ursprung ein anderer ist als der von Logik, Moral und Bedeutung. Es geht letztlich dabei nur um die Rolle, die Funktion. Dinge, die keine unvermeidliche Rolle spielen, sollten nicht da sein. Unvermeidliche Dinge jedoch sollten da sein. Das ist Dramaturgie. Logik, Moral und Bedeutung sind keine Größen, die a priori vorhanden sind, sondern sie entstehen erst in einem Zusammenhang. Das war es, was Tschechow unter Dramaturgie verstand.«
    »Ich versteh kein Wort. Das ist mir zu hoch.«
    »Dein Stein ist, mit Tschechow gesprochen, die ›Pistole‹. Er muss abgefeuert werden. In dieser Hinsicht ist er von Bedeutung, ist er ein besonderer Stein. Aber es ist nichts Heiliges an ihm. Also brauchst du dir überhaupt keine Sorgen zu machen, verflucht zu werden.«
    Hoshino runzelte die Stirn. »Dieser Stein ist eine Pistole?«
    »Nur in metaphorischer Hinsicht. In Wirklichkeit wird keine Kugel aus ihm rauskommen. Da kannst du ganz beruhigt sein.«
    Colonel Sanders zog ein großes quadratisches Tuch aus seiner Jacketttasche und reichte es Hoshino.
    »Darin kannst du den Stein einwickeln. Wir wollen ja nicht, dass jemand ihn sieht.«
    »Oh je, dann sind wir doch Räuber.«
    »Was redest du da? Wie klingt denn das? Wir stehlen ihn doch nicht. Wir leihen ihn nur kurz für einen wichtigen Zweck aus.«
    »Ja doch – ich hab schon verstanden. Wir folgen nur der Dramaturgie und übergeben die Materie ihrem unvermeidlichen Wandel.«
    »Ganz recht.« Colonel Sanders nickte. »Jetzt hast du es begriffen.«
    Hoshino wickelte den Stein in das kräftige indigoblaue Tuch und ging den Pfad zurück durch das Wäldchen. Colonel Sanders leuchtete ihm mit der Taschenlampe den Weg. Der Stein war viel schwerer, als er aussah, sodass der junge Mann unterwegs mehrmals anhalten musste, um zu verschnaufen. Als sie aus dem Wäldchen heraus waren, durchquerten sie hastig, damit niemand sie sah, den beleuchteten Teil und traten auf eine große Straße hinaus. Colonel Sanders hob die Hand, hielt ein vorbeifahrendes Taxi an und ließ den jungen Mann mit dem Stein einsteigen.
    »Ich soll ihn also ans Kopfende legen?«, fragte der junge Mann.
    »Genau. Sonst nichts. Mach dir keine unnötigen Gedanken. Das Wichtigste ist, dass der Stein da ist«, sagte Colonel Sanders.
    »Ich muss mich bei Ihnen bedanken, Colonel. Dafür, dass Sie mir gezeigt haben, wo der Stein ist.«
    Colonel Sanders lächelte. »Du brauchst mir nicht zu danken. Ich erfülle nur meine Funktion. Aber das war doch ein tolles Weib, kleiner Hoshino, was?«
    »Ja, wirklich unglaublich, Colonel.«
    »Das ist die Hauptsache.«
    »Aber die Frau war doch echt? Kein Fuchs oder eine Abstraktion oder so was Unerfreuliches, oder?«
    »Weder ein Fuchs noch eine Abstraktion. Eine echte Sexmaschine. Reinster Vierrad-Lustantrieb. Hat ziemliche Mühe gekostet, sie zu finden. Sei also ganz beruhigt.«
    »Da bin ich aber froh«, sagte Hoshino.
     
    Als Hoshino den eingewickelten Stein an Nakatas Kopfende legte, war es bereits nach ein Uhr nachts. Er fand, es sei besser, ihn dorthin zu legen, um den Fluch abzuwenden. Erwartungsgemäß schlief Nakata tief und fest wie ein Klotz. Damit er den Stein auch sehen konnte, beschloss der junge Mann, das Tuch aufzuknoten. Dann zog er sich seinen Schlafanzug an, kroch in den Futon und war schon im nächsten Augenblick eingeschlafen. Er träumte kurz von einem Gott, der in kurzen Hosen auf einem Sportplatz rumrannte und auf einer Trillerpfeife blies.
    Als Nakata am nächsten Morgen um fünf Uhr aufwachte, sah er an seinem Kopfende den Stein.

31
    Kurz nach eins bringe ich frisch gekochten Kaffee in ihr Büro im ersten Stock. Wie immer ist die Tür offen. Frau Saeki steht am Fenster und sieht, eine Hand an den Rahmen gelegt, hinaus. Woran sie wohl denkt? Mit der anderen Hand spielt sie gedankenverloren an einem Blusenknopf. Weder Füller noch Papier liegen auf dem Schreibtisch, auf den ich nun die Kaffeetasse stelle. Eine dünne Wolkenschicht verschleiert den Himmel, und kein Vogelgezwitscher ist zu hören.
    Als Frau Saeki mich sieht, wendet sie sich abrupt vom Fenster ab, setzt sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und nimmt einen Schluck Kaffee. Dann bietet sie mir den üblichen Platz an, und ich setze mich. Über den Schreibtisch hinweg sehe ich ihr beim Kaffeetrinken zu. Ob sie sich

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