Kafka am Strand
vielleicht doch noch ein bisschen an die Ereignisse der letzten Nacht erinnert? Ich vermag es nicht zu sagen. Dem äußeren Anschein nach könnte sie alles wissen oder überhaupt nichts. Ich erinnere mich an ihren nackten Körper. An das Gefühl, sie überall zu berühren. Aber ich bin mir nicht einmal sicher, ob es wirklich diese Saeki-san gewesen ist, auch wenn ich in der Nacht davon überzeugt gewesen war.
Sie trägt eine schimmernde hellgrüne Bluse und einen engen beigefarbenen Rock. Am Kragen schaut ihre schmale Silberkette hervor. Sie sieht sehr chic aus. Ihre schlanken Finger auf dem Schreibtisch lassen an fein ziseliertes Kunsthandwerk denken.
»Wie sieht’s aus? Gefällt es dir hier?«, fragt sie mich.
»In Takamatsu?«
»Ja.«
»Ich weiß nicht genau. Bisher habe ich noch kaum etwas von der Stadt gesehen. Nur das, was zufällig am Weg lag. Die Bibliothek, ein Sportstudio, den Bahnhof, ein Hotel … mehr nicht.«
»Findest du die Stadt langweilig?«
Ich schüttle den Kopf. »Ich weiß nicht. Eigentlich finde ich selten etwas langweilig. Außerdem sehen alle Städte irgendwie gleich aus … Ist Takamatsu denn langweilig?«
Sie zuckt kurz die Achseln. »Als ich jung war, fand ich das jedenfalls und wollte fort. An einen Ort, an dem es etwas Besonderes gibt und interessantere Menschen.«
»Interessantere Menschen?«
Frau Saeki schüttelt leicht den Kopf. »Ich war jung«, sagt sie.
»Und junge Leute denken meistens so. Du nicht?«
»Eigentlich nicht. Ich bin nicht fortgegangen, um etwas Interessanteres zu finden. Ich wollte nur anderswohin. Ich wollte nur nicht dort bleiben.«
»Dort?«
»In Nogata in Nakano. Wo ich geboren und aufgewachsen bin.«
Ich habe das Gefühl, in ihren Augen etwas aufblitzen zu sehen, als sie diese Namen hört, aber sicher bin ich nicht.
» Wohin du weglaufen würdest, war nicht die Frage für dich, stimmt’s?«, sagt Frau Saeki.
»Nein, das war nicht die Frage. Ich wusste nur, dass ich auf keinen Fall dort bleiben konnte. Deshalb bin ich gegangen.«
Sie betrachtet ihre auf dem Schreibtisch ruhenden Hände. Mit einem sehr objektiven Blick.
»Ich habe genauso gedacht wie du, als ich mit zwanzig von hier fortging«, sagt sie ruhig. »Ich dachte, ich würde es nicht überleben, wenn ich hier bliebe, und war fest überzeugt, dass ich diese Stadt nie Wiedersehen würde. Ich hatte nicht vor zurückzukommen. Doch so vieles ist geschehen, und ich konnte nicht anders. Es ist, wie an den Anfang zurückzukehren.«
Sie dreht sich um und schaut aus dem offenen Fenster. Die Schattierungen der Wolkendecke am Himmel zeigen nicht die mindeste Veränderung. Es ist windstill. Der Hintergrund ist reglos wie eine Studiokulisse.
»Im Leben geschehen viele unvorhersehbare Dinge.«
»Heißt das, ich werde vielleicht eines Tages an meinen Ursprung zurückkehren?«
»Das weiß ich natürlich nicht. Das ist deine Sache, und es liegt vielleicht in weiter Ferne. Aber ich glaube, der Geburtsort und der Ort, an dem ein Mensch stirbt, sind für ihn sehr wichtig. Seinen Geburtsort kann man sich natürlich nicht aussuchen. Aber den Ort, an dem man stirbt, kann man bis zu einem gewissen Grad selbst wählen.«
Sie spricht gelassen, das Gesicht dem Fenster zugewandt. »Wie kommt es nur, dass ich dir diese Gedanken anvertraue?«
»Weil ich nicht von hier bin und in einem ganz anderen Alter als Sie«, sage ich.
»Wahrscheinlich hast du Recht.«
Ein kurzes Schweigen entsteht, zwanzig, dreißig Sekunden, in denen wir wohl beide verschiedenen Gedanken nachhängen. Sie nimmt ihre Tasse und trinkt einen Schluck.
Ich fasse mir ein Herz. »Saeki-san, ich hab Ihnen auch etwas anzuvertrauen.«
Sie wendet sich mir zu und lächelt. »Also tauschen wir jetzt gegenseitig unsere Geheimnisse aus, nicht wahr?«
»Meins ist eigentlich kein Geheimnis. Eher eine Hypothese.«
»Eine Hypothese?«, sagt Frau Saeki. »Du vertraust mir eine Hypothese an?«
»Ja.«
»Klingt interessant.«
»Es ist eine Fortsetzung des Gesprächs, das wir vor kurzem hatten«, sage ich. »Sind Sie denn in diese Stadt zurückgekehrt, um zu sterben?«
Ein ruhiges Lächeln erscheint auf ihren Lippen wie der aufgehende bleiche Mond. »Könnte man sagen. Aber eigentlich spielt es keine Rolle. Im alltäglichen Dasein macht das keinen so großen Unterschied – ob man etwas tut, um zu überleben oder um zu sterben, ist im Grunde egal.«
»Sehnen Sie sich nach dem Tod?«
»Tja«, sagt sie. »Das weiß ich selbst nicht.«
»Mein Vater
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