Kafka am Strand
irgendwo hat er seine Staffelei platziert. Ich erinnere mich noch genau. Die Lage der Insel passt ins Bild, oder?«
Ich folge ihrer Fingerspitze. Die Lage der Insel scheint tatsächlich zu passen. Und doch sieht es, aus welchem Blickwinkel ich auch schaue, nicht aus wie die Stelle auf dem Bild. Das sage ich.
»Der Strand hat sich tatsächlich sehr verändert«, sagt Saeki-san.
»Immerhin sind inzwischen vierzig Jahre vergangen, und die Landschaft hat sich natürlich gewandelt. Die Wellen, der Wind, die Stürme und all das haben die Küstenlinie verändert. Sand ist verschwunden, Sand wurde angeschwemmt. Aber gar kein Zweifel, es war hier. Ich weiß es noch wie heute. Und in jenem Sommer bekam ich zum ersten Mal meine Periode.«
Schweigend betrachten wir die Landschaft. Die Wolken ändern ihre Form, das Mondlicht wirft Flecken auf den Sand. Hin und wieder zieht ein Windstoß durch das Kiefernwäldchen und erzeugt ein Geräusch, als fegten zahllose Besen über die Erde. Ich schöpfe mit den Händen Sand und lasse ihn durch die Finger langsam zu Boden rieseln, wo er sich mit anderem Sand vermischt – wie Zeit, die man aus den Augen verliert.
»Woran denkst du?«, fragt mich Frau Saeki.
»Daran, nach Spanien zu fahren.«
»Und was würdest du in Spanien tun?«
»Paella essen.«
»Mehr nicht?«
»Mich am Spanischen Bürgerkrieg beteiligen.«
»Aber der Spanische Bürgerkrieg ist seit über sechzig Jahren zu Ende.«
»Ich weiß«, sage ich. »Lorca ist tot, und Hemingway hat überlebt.«
»Aber du möchtest mitmachen?«
Ich nicke. »Brücken sprengen.«
»Und dich in Ingrid Bergmann verlieben.«
»Aber in Wirklichkeit bin ich in Takamatsu und in Sie verliebt.«
»Was nicht so richtig geht.«
Ich lege den Arm um ihre Schulter.
Du LEGST DEN ARM UM IHRE SCHULTER.
Sie lehnt sich an dich. Wieder vergeht eine lange Zeit.
»Weißt du was? Vor einer Ewigkeit habe ich schon einmal genau das Gleiche getan. Genau an dieser Stelle.«
»Ich weiß«, sagst du.
»Woher weißt du das?«, fragt sie und sieht dich an.
»Weil ich damals dort war.«
»Du warst dort und hast Brücken gesprengt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Metaphorisch gesprochen.«
»Natürlich.«
Du nimmst sie in die Arme, ziehst sie an dich und küsst sie. Du spürst, wie in deinen Armen die Kraft ihren Körper verlässt.
»Wir alle träumen«, sagt sie.
Alle träumen.
»Warum bist du gestorben?«
»Ich konnte es nicht verhindern«, sagst du.
Ihr beide geht am Strand entlang zur Bibliothek zurück. Dann löscht ihr das Licht im Zimmer, zieht die Vorhänge vor und umarmt euch wortlos im Bett. Beinahe das Gleiche wie in der vergangenen Nacht wiederholt sich auf fast gleiche Weise. Zwei Unterschiede gibt es jedoch. Nachdem ihr zusammen geschlafen habt, weint sie. Sie vergräbt den Kopf im Kissen und weint lange und lautlos. Du weißt nicht, was du tun sollst, und legst deine Hand sacht auf ihre nackte Schulter. Du willst irgendetwas sagen. Aber du weißt nicht, was. Die Worte sind in einer Nische der Zeit erstorben. Sind lautlos auf den Grund eines dunklen Kratersees gesunken. Das ist der eine Unterschied. Als sie diesmal geht, ertönt der Motor ihres Wagens. Das ist der zweite Unterschied. Sie startet den Motor, schaltet ihn ab, eine gewisse Zeit vergeht, als würde sie nachdenken. Dann lässt sie den Motor wieder an und fährt vom Parkplatz. Die Stille zwischen dem Anlassen und Abschalten des Motors löst große Traurigkeit in dir aus. Diese Leere zieht ein in dein Herz wie der Nebel vom Meer. Sie richtet sich für lange dort ein und wird ein Teil von dir.
Von Saeki-san ist dir nur das tränenfeuchte Kissen geblieben. Die Hand auf dem feuchten Kissen, beobachtest du, wie der Himmel vor dem Fenster allmählich heller wird. Von ferne ertönt der Ruf einer Krähe. Die Erde dreht sich langsam weiter. Und so leben wir alle in unseren Träumen.
32
Als Nakata gegen fünf Uhr morgens aufwachte, erblickte er den großen Stein an seinem Kopfende. Auf dem Futon neben ihm schlief Hoshino ganz fest mit halboffenem Mund und zerzaustem Haar. An seinem Kopfende lag die Chunichi-Dragons-Kappe. Sein schlafendes Gesicht vermittelte eine ausdrückliche Botschaft: »Was auch passiert, weck mich nicht!« Nakata war nicht überrascht, den Stein dort zu finden, und stellte sich auch keine Fragen. Sein Verstand akzeptierte den Umstand, dass der Stein an seinem Kopfende lag, prompt und ohne die Frage, wie er dorthin gekommen sein mochte. Betrachtungen über
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