Kafka am Strand
komplizierte Abläufe überforderten in den meisten Fällen sein Denkvermögen.
Nakata setzte sich aufrecht neben das Kopfende und nahm den Stein eine Weile gründlich in Augenschein. Bald streckte er eine Hand aus und berührte sacht den Stein, als fasse er eine große schlafende Katze an. Erst vorsichtig mit den Fingerspitzen, doch als er merkte, dass nichts passierte, strich er kühn und ausgiebig mit der Hand über die ganze Oberfläche. Dabei dachte er angestrengt über etwas nach. Oder zumindest lag ein nachdenklicher Ausdruck auf seinem Gesicht. Seine Hände betasteten die raue Oberfläche und prägten sich jeden Winkel, jede Delle und jeden Vorsprung ein, als läsen sie eine Landkarte. Hin und wieder legte Nakata unvermittelt, als sei ihm etwas eingefallen, eine Hand auf seinen Kopf und rieb sich über die Stoppeln, wie um etwas Verbindendes zwischen seinem Kopf und dem Stein zu entdecken.
Endlich erhob er sich mit einem Seufzer, öffnete das Fenster und steckte den Kopf nach draußen. Vom Fenster aus sah man nur die Rückseite eines angrenzenden, ärmlichen Gebäudes, in dem ärmliche Menschen ärmliche Arbeiten verrichteten, um ihr ärmliches Brot zu verdienen. In den Straßen jeder Stadt gibt es solche Gebäude, die abseits von jeder Begünstigung liegen. Charles Dickens hätte es vermutlich zehn Seiten lang beschrieben. Die Wolken darüber wirkten wie harte Dreckklumpen, die man seit Ewigkeiten nicht aus dem Staubsauger entfernt hat. Oder als hätten die bei der dritten industriellen Revolution entstandenen Widersprüche sich zu den verschiedensten Formen verdichtet und wären gen Himmel geschwebt. Jedenfalls sah es nach Regen aus. Unten entdeckte Nakata eine abgemagerte schwarze Katze, die mit aufgerichtetem Schwanz auf der schmalen Mauer zwischen den Gebäuden herumstolzierte.
»Heute gibt es Gewitter«, sprach Nakata die Katze an. Aber seine Worte schienen sie nicht zu erreichen. Ohne sich umzudrehen oder innezuhalten, spazierte sie anmutig weiter und verschwand im Schatten der Häuser.
Er nahm die Plastiktüte mit seinem Waschzeug, ging ins Gemeinschaftsbad auf dem Flur, wusch sich das Gesicht mit Seife, putzte sich die Zähne und rasierte sich mit dem Sicherheitsrasierer. Für jede einzelne dieser Verrichtungen nahm er sich Zeit. Er wusch sich gründlich das Gesicht, putzte sich gründlich die Zähne und rasierte sich gründlich. Er stutzte sich mit der Schere die Nasenhaare, glättete seine Augenbrauen und reinigte sich die Ohren. Er war ohnehin ein Mensch, der für alles etwas länger brauchte, aber an diesem Morgen ließ er sich besonders viel Zeit. Um diese frühe Stunde war außer ihm noch niemand im Bad, und bis zum Frühstück war es noch eine Weile hin. Hoshino machte auch nicht den Eindruck, als würde er in nächster Zeit aufwachen. Also konnte Nakata, ohne auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen, in aller Ruhe vor dem Spiegel Toilette machen, während er die Gesichter der verschiedenen Katzen, die er in dem Buch in der Bücherei gesehen hatte, in Gedanken Revue passieren ließ. Da er nicht lesen konnte, wusste er nicht, um welche Rassen es sich gehandelt hatte. Trotzdem erinnerte er sich an das Gesicht jeder einzelnen Katze.
»Wie viele verschiedene Katzen es doch auf der Welt gibt«, dachte er, während er sich mit einem Ohrstäbchen die Ohren reinigte. Sein erster Besuch in einer Bibliothek hatte Nakata schmerzlich zu Bewusstsein gebracht, was alles er nicht wusste. Es gab so grenzenlos vieles auf der Welt, worüber er rein gar nichts wusste. Als Nakata über die Grenzenlosigkeit nachdachte, bekam er allerdings leichte Kopfschmerzen. Natürlich hatte die Grenzenlosigkeit keine Grenze. Damit gab er es auf, über Grenzenlosigkeit nachzudenken, und dachte lieber wieder an die Fotos der Katzen in dem Buch Katzen der Welt. Wie schön es wäre, sich mit jeder Einzelnen von ihnen unterhalten zu können. Es gab so viele Arten zu denken auf der Welt, so viele Arten zu sprechen und so viele Arten von Katzen. Nakata überlegte, ob die Katzen im Ausland auch ausländisch sprachen. Aber auch diese Frage war so schwierig, dass Nakata abermals Kopfschmerzen bekam.
Als er sich fertig gemacht hatte, ging er wie gewohnt auf die Toilette. Dafür brauchte er nie lange. Anschließend nahm er die Plastiktüte mit seinem Waschzeug und ging aufs Zimmer zurück. Hoshino rührte sich nicht und schlief immer noch fest. Nakata hob sein Hawaiihemd und die Bluejeans vom Boden auf und faltete sie ordentlich
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