Kafka am Strand
fünfzehnjährige Ausreißer mit einem Hang zur Gewalt und mit einer Obsession«, ergänzt Oshima.
»Und über die Fische, die es geregnet hat?«
Oshima schüttelt den Kopf. »Da scheint auch eine Pause eingetreten zu sein. Seither ist außer dem fürchterlichen, monumentalen Gewitter vorgestern nichts Merkwürdiges mehr niedergegangen.«
»Hat sich die Lage entspannt?«
»Sieht so aus. Oder wir befinden uns im Auge des Orkans.«
Ich nicke, nehme eine Muschel, picke das Innere mit der Gabel heraus und lege die Schale in das dafür vorgesehene Gefäß.
»Bist du noch verliebt?«, fragt Oshima.
Ich nicke. »Und Sie?«
»Ob ich verliebt bin?«
Ich nicke.
»Du stellst mir also die intime Frage nach einer ungehörigen Romanze in meinem von sexueller Unbestimmbarkeit und Homosexualität pervertierten Privatleben?«
Ich nicke. Er nickt.
»Es gibt da jemanden«, sagt Oshima, während er mit mürrischem Gesicht eine Muschel verzehrt. »Aber es ist keine stürmische Liebe wie in einer Oper von Puccini. Wir sind weder abhängig noch distanziert und sehen uns nur gelegentlich. Aber ich glaube, im Grunde gibt es ein tiefes gegenseitiges Verständnis.«
»Verständnis?«
»Wenn Haydn komponierte, trug er immer eine – sogar gepuderte – Perücke und Gesellschaftskleidung.«
Verblüfft sehe ich Oshima an. »Haydn?«
»Ohne die Perücke konnte er nicht richtig komponieren.«
»Warum nicht?«
»Weiß ich nicht. Das ist eine Sache zwischen Haydn und seiner Perücke. Für Außenstehende unverständlich. Wahrscheinlich konnte er es selbst nicht erklären.«
Ich nicke.
»Herr Oshima, bekommen Sie auch so ein trauriges Gefühl, wenn Sie allein sind und an die andere Person denken?«
»Natürlich«, sagt er. »Bei den verschiedensten Gelegenheiten. Besonders in der Jahreszeit, in der der Mond bläulich wirkt. Und besonders in der Jahreszeit, in der die Vögel nach Süden ziehen. Besonders –«
»Wieso natürlich « , frage ich.
»Weil jeder, der liebt, seine fehlende Hälfte sucht. Deshalb wirst du immer traurig – mal mehr, mal weniger –, wenn du an den anderen denkst. Wehmut ergreift dich, als würdest du ein Zimmer betreten, das dir schon lange nicht mehr gehört. Das ist ganz natürlich. Du hast dieses Gefühl nicht erfunden. Du brauchst es dir nicht patentieren zu lassen.«
Ich nehme meine Gabel und schaue auf.
»Die Wehmut nach einem alten Zimmer in weiter Ferne?«
»Genau«, sagt Oshima und hebt seine Gabel. »Natürlich ist das nur eine Metapher.«
Abends gegen neun Uhr kommt Saeki-san zu mir ins Zimmer. Ich sitze auf meinem Sessel und lese, als ich höre, wie ihr Golf auf den Parkplatz fährt und dort hält. Eine Wagentür wird zugeschlagen. Gummisohlen überqueren langsam den Parkplatz. Es klopft an meiner Tür. Saeki-san steht davor. Diesmal schläft sie nicht. Sie trägt ein Baumwollhemd mit Nadelstreifen und leichte Bluejeans. Dazu weiße Segeltuchschuhe. Zum ersten Mal sehe ich sie in Hosen.
»Ein Zimmer voller Erinnerungen«, sagt sie. Sie bleibt vor dem Bild an der Wand stehen und betrachtet es. »Und ein Bild voller Sehnsüchte.«
»Ist der Strand auf dem Bild hier in der Nähe?«, frage ich sie.
»Gefällt es dir?«
Ich nicke. »Wer hat es gemalt?«
»Ein junger Maler, der in einem Sommer bei den Komuras zu Gast war. Kein sonderlich berühmter Maler, zumindest damals nicht. Deshalb habe ich auch seinen Namen vergessen. Aber er war nett, und ich finde, das Bild ist sehr gut gemalt. Auf jeden Fall hat es etwas Kraftvolles. Ich habe ihm die ganze Zeit beim Malen zugeschaut und dabei halb im Scherz alle möglichen Forderungen gestellt. Wir waren gute Freunde. Ich und der Maler, in jenem Sommer vor langer Zeit. Ich war damals zwölf Jahre alt«, erzählt sie. »Und der Junge auf dem Bild war ebenfalls zwölf.«
»Die Stelle sieht aus, als wäre sie hier ganz in der Nähe.«
»Komm mit«, sagt sie. »Wir machen einen Spaziergang und ich zeige sie dir.«
Wir gehen durch das Kiefernwäldchen zum Meer, an den nächtlichen Strand. Die Wolken reißen auf, und das Licht des Halbmonds liegt auf den Wellen. Es sind kleine Wellen, die schwach ansteigen und sich leise brechen. Irgendwo setzt sie sich in den Sand, und ich lasse mich neben ihr nieder. Der Sand speichert noch ein wenig Wärme. Sie deutet vage mit dem Finger auf eine Stelle am Wasser.
»Dort war es«, sagt sie. »Aus diesem Winkel hat er die Szene gemalt. Er hat einen Liegestuhl aufgestellt und den Jungen hineingesetzt. Dort
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