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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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seit etwa einer Woche. Wahrscheinlich bin ich insgesamt ungefähr seit drei Wochen in Takamatsu. Ich hole mein Tagebuch aus dem Rucksack, um nachzulesen, denn mir fehlt der Überblick, um die einzelnen Tage im Kopf nachzurechnen.
    Nach dem Essen trinke ich einen Tee und beobachte das emsige Kommen und Gehen vor dem Bahnhof. All diese Menschen haben ein Ziel. Wenn ich will, könnte ich einer von ihnen werden. Ich könnte jetzt in einen Zug steigen und einfach woanders hinfahren. Alles hier hinter mir lassen, aufgeben, in eine fremde Stadt fahren und noch einmal bei null anfangen. Eine neue Seite in meinem Heft aufschlagen. Ich könnte zum Beispiel nach Hiroshima fahren oder nach Fukuoka. Ich bin an nichts gebunden. Ich bin zu einhundert Prozent frei. In dem Rucksack über meiner Schulter ist alles, was ich vorerst zum Leben brauche. Kleidung, Waschzeug, Schlafsack. Das Geld aus dem Arbeitszimmer meines Vaters habe ich bis jetzt auch kaum angerührt.
    Aber mir ist auch klar, dass ich nicht mehr fortgehen kann.
    »Aber dir ist auch klar, dass du nicht mehr fortgehen kannst«, sagt Krähe.
     
    Du HAST saeki-san umarmt und in ihr ejakuliert. mehrmals. SIE HAT DEINEN SAMEN AUFGENOMMEN. DEIN PENIS BRENNT NOCH DAVON. AN IHM SPÜRST DU NOCH IHRE VAGINA. SIE IST der eine ORT für dich. denk an die bibliothek. denk an die schweigenden bücher, wie sie sich morgens still in den regalen reihen. denk an oshima. an das fünfzehnjährige mädchen, das in dein zimmer kommt, um sich »kafka am strand« an der wand anzusehen. Du SCHÜTTELST den kopf. du kannst nicht von hier fortgehen. du bist gar nicht frei. aber willst du denn wirklich frei sein?
     
    Am Bahnhof komme ich mehrmals an Streifenpolizisten vorbei, die jedoch keinerlei Notiz von mir nehmen. Braungebrannte Jugendliche mit Rucksack gibt es überall. Wahrscheinlich gehe ich als einer von ihnen in der Umgebung auf. Es gibt keinen Grund, nervös zu sein. Ich muss mich nur ganz natürlich verhalten. Dann beachtet mich auch keiner.
    Ich steige in die kleine Straßenbahn und fahre zur Bibliothek zurück.
    »Hallo, da bist du ja wieder«, begrüßt mich Oshima. Er wirft einen resignierten Blick auf meinen Rucksack. »Du meine Güte, du läufst ja noch immer mit Sack und Pack durch die Gegend. Du erinnerst mich an diesen Jungen mit der Schmusedecke aus Charlie Brown.«
    Ich setze Wasser auf und mache mir Tee. Oshima dreht wie üblich einen langen gespitzten Bleistift zwischen den Fingern. (Was wird eigentlich aus den Bleistiften, wenn sie kürzer werden?)
    »Für dich ist der Rucksack doch sicher ein Symbol deiner Freiheit«, sagt Oshima.
    »Vielleicht.«
    »Ein Symbol für Freiheit zu besitzen, kann ein größeres Glück sein als die Freiheit selbst.«
    »Manchmal.«
    »Manchmal«, wiederholt er. »Sollte es irgendwo auf der Welt einen ›Wettbewerb der kurzen Antworten‹ geben, könntest du ihn mit Leichtigkeit gewinnen.«
    »Vermutlich.«
    »Vermutlich«, sagt Oshima resigniert. »Vermutlich, lieber Kafka, streben die meisten Menschen auf der Welt gar nicht nach Freiheit. Sie bilden es sich nur ein. Alles Illusion. Wären sie auf einmal tatsächlich frei, wären viele ziemlich aufgeschmissen. Das solltest du dir merken. In Wirklichkeit lieben wir die Unfreiheit.«
    »Sie auch, Herr Oshima?«
    »Ja, ich auch. Natürlich nur bis zu einem gewissen Grad. Jeanjacques Rousseau zufolge entsteht Zivilisation dann, wenn die Menschheit Schranken errichtet. Sehr tiefsinnig, was? Demnach ist jede Zivilisation das Resultat von Schranken und Unfreiheit. Nur die Aborigines in Australien sind anders. Bis ins 17. Jahrhundert hatten sie eine Zivilisation ohne Schranken. Sie waren von Grund auf frei. Sie gingen, wann es ihnen gefiel, wohin es ihnen gefiel, um zu tun, was ihnen gefiel. Ihr Leben war buchstäblich eine einzige Wanderschaft. Das Umherziehen war die profunde Metapher ihres Lebens. Als die Engländer kamen und Zäune für ihr Vieh bauten, begriffen die Aborigines den Sinn davon nicht. Da sie nicht imstande waren, dieses Prinzip zu verstehen, jagte man sie als asoziale, gefährliche Wesen in die Wildnis. Deshalb solltest auch du auf der Hut sein, mein lieber Kafka. Auf dieser Welt haben letztlich die Menschen die besten Überlebenschancen, die hohe, dauerhafte Zäune errichten. Wenn du die nicht anerkennst, wirst du in die Wildnis gejagt.«
     
    Ich gehe in mein Zimmer, um meine Sachen abzulegen. Dann koche ich in der Küche frischen Kaffee und bringe wie gewohnt eine Tasse in

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