Kafka am Strand
Saeki-sans Zimmer. Das Metalltablett in beiden Händen steige ich behutsam Stufe für Stufe die Treppe hinauf. Die alten Dielen knarren. Das Buntglas im Flur wirft leuchtende Farben auf den Boden. Ich setze meine Füße auf die bunten Male.
Saeki-san sitzt am Schreibtisch und schreibt. Ich stelle die Tasse ab. Sie schaut hoch und fordert mich auf, auf meinem Stuhl Platz zu nehmen. Sie trägt ein milchkaffeebraunes Hemd über einem schwarzen T-Shirt. Ihr Haar hat sie von der Stirn mit einer Spange hochgesteckt. Kleine Perlenstecker zieren ihre Ohrläppchen.
Eine Weile sagt sie gar nichts und starrt mit unbewegter Miene auf das Geschriebene. Sie verschließt ihren Füllhalter mit der Kappe und legt ihn auf das Papier. Spreizt die Finger, um zu prüfen, ob keine Tinte daran haftet. Die Strahlen der sonntäglichen Nachmittagssonne dringen durchs Fenster. Im Garten unterhält sich jemand.
»Herr Oshima hat mir gesagt, du seist im Sportstudio«, sagt sie und wirft mir einen Blick zu.
»Stimmt.«
»Was für einen Sport treibst du?«
»Ich trainiere an Geräten und mit Gewichten«, antworte ich.
»Und sonst?«
Ich schüttle den Kopf.
»Sind das nicht sehr einsame Sportarten?«
Ich nicke.
»Du möchtest wohl stark werden?«
»Wenn man nicht stark ist, kann man nicht überleben. Besonders in meinem Fall.«
»Weil du allein bist.«
»Mir hilft niemand. Bis jetzt hat das zumindest niemand getan. Also bleibt mir nur, aus eigener Kraft zu handeln. Deshalb muss ich stark werden. Wie eine Krähe, die sich verirrt hat. Deshalb habe ich mir den Namen Kafka gegeben. Kafka heißt auf Tschechisch Krähe.«
»So?«, sagt sie etwas erstaunt. »Und nun bist du Krähe.«
»Ja«, sage ich.
JA, sagt der junge namens krähe.
»Aber eine solche Lebensweise hat auch ihre Grenzen. Man kann sich nicht mit Stärke umgeben wie mit einer Mauer. Auch Stärke kann von Stärkerem gebrochen werden. Im Prinzip.«
»Weil die Stärke selbst zur Moral wird.«
Saeki-san lächelt. »Du begreifst sehr schnell.«
»Aber ich bin nicht auf der Suche nach einer Stärke, die gewinnt oder unterliegt. Ich will keine Mauer, um Kräfte von außen abzuwehren. Was ich will, ist stark genug sein, um die von außen kommenden Kräfte aufzunehmen und ihnen standzuhalten. Ich brauche die Kraft, um gelassen Ungerechtigkeit, Unglück, Traurigkeit, Missverständnisse, Ignoranz und solche Dinge zu ertragen.«
»Diese Kraft ist wohl am schwierigsten zu erlangen.«
»Ich weiß.«
Ihr Lächeln vertieft sich. »Du weißt wirklich eine Menge, nicht wahr?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein, das ist nicht wahr. Ich bin erst fünfzehn, und es gibt so vieles, was ich nicht weiß. Dinge, die ich wissen müsste und doch nicht weiß. Zum Beispiel weiß ich nichts über dich.«
Sie greift nach ihrer Tasse Kaffee und nimmt einen Schluck. »Es gibt eigentlich nichts, was du über mich wissen müsstest. Im Grunde musst du nur wissen, dass nichts in mir ist.«
»Erinnerst du dich noch an meine Hypothese?«
»Natürlich«, sagt sie. »Aber es ist deine Hypothese, nicht meine. Also bin ich auch nicht dafür verantwortlich, nicht wahr?«
»Stimmt. Die Richtigkeit einer Hypothese zu beweisen ist Sache desjenigen, der sie aufgestellt hat«, sage ich. »In diesem Zusammenhang hätte ich noch eine Frage.«
»Ja?«
»Du hast doch vor längerer Zeit ein Buch über Menschen geschrieben, die vom Blitz getroffen wurden, und es veröffentlicht?«
»Ja.«
»Ist es noch erhältlich?«
Sie schüttelt den Kopf. »Die Auflage war von Anfang an nicht hoch, es ist längst vergriffen. Falls es noch Restbestände gab, wurden sie wahrscheinlich eingestampft. Ich besitze nicht einmal selbst ein Exemplar. Wie gesagt, kaum jemand hat sich für das Buch interessiert.«
»Und wieso hat dich das Thema interessiert?«
»Ja, warum? Vielleicht wegen seines Symbolcharakters. Vielleicht wollte ich mir auch nur eine passende Aufgabe stellen, um Körper und Geist in Bewegung zu setzen, einfach um mich zu beschäftigen. Den unmittelbaren Grund habe ich inzwischen vergessen. Irgendwann hatte ich die Idee und fing an zu recherchieren. Damals habe ich auch von Berufs wegen geschrieben. Geldsorgen hatte ich nicht und auch mehr als genug Zeit, also konnte ich praktisch tun, was mir gefiel. Die Arbeit interessierte mich sehr. Ich lernte die unterschiedlichsten Menschen kennen und konnte ihre Geschichte hören. Ohne dieses Projekt hätte ich mich vielleicht immer mehr von der Realität entfernt und in mich
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