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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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zurückgezogen.«
    »Mein Vater hat als junger Mann als Caddy auf einem Golfplatz gejobbt und ist dabei vom Blitz getroffen worden. Er hat überlebt. Der Mann, der bei ihm war, wurde getötet.«
    »Es kommt relativ häufig vor, dass Leute auf dem Golfplatz vom Blitz erschlagen werden. Ein weiter, ebener Platz, kaum eine Stelle zum Unterstellen – Golfplätze sind geradezu prädestiniert dafür. Dein Vater hieß doch sicher Tamura, nicht wahr?«
    »Ja. Er war ungefähr in deinem Alter.«
    Sie schüttelt den Kopf. »Ich kann mich an keinen Herrn Tamura erinnern. Von meinen Interviewpartnern hieß keiner Tamura.«
    Ich schweige.
    »Das gehört wohl auch zu deiner Hypothese? Dass ich deinen Vater im Zuge meiner Arbeit an dem Buch über Blitzeinschläge kennen gelernt und in Folge dieser Begegnung dich bekommen habe?«
    »Ja.«
    »Tja, damit endet die Geschichte. So war es nicht. Also trifft deine Hypothese nicht zu.«
    »Das muss nicht sein«, sage ich.
    »Wie bitte?«
    »Ich glaube nicht, was du da sagst.«
    »Wieso nicht?«
    »Zum Beispiel eines – bei der Erwähnung des Namens Tamura hast du sofort behauptet, jemand dieses Namens sei nicht dabei gewesen. Du hast nicht einmal richtig überlegt. Vor über zwanzig Jahren hast du eine Menge Interviews geführt. Da erinnert man sich doch nicht sofort daran, ob einer der Interviewten Tamura hieß oder nicht.«
    Saeki-san schüttelt den Kopf und nimmt noch einen Schluck Kaffee. Der Hauch eines Lächelns umspielt ihren Mund. »Ach, Kafka, ich …«, setzt sie an, verstummt jedoch gleich wieder. Sie sucht nach Worten. Ich warte, dass sie sie findet.
    »Ich habe das Gefühl, dass sich in meiner Umgebung etwas zu verändern beginnt.«
    »Was denn?«
    »Ich kann es nicht richtig sagen. Aber ich spüre es. Der Luftdruck, die Geräusche, die Reflexion des Lichts, die Bewegungen meines Körpers, der Lauf der Zeit. Als würden sich kleine Veränderungen wie Tropfen allmählich ansammeln und einen Strom bilden.«
    Saeki-san nimmt ihren schwarzen Montblanc-Füller, betrachtet ihn und legt ihn wieder an seinen Platz zurück. Dann schaut sie mir geradewegs ins Gesicht.
    »Was gestern Nacht in deinem Zimmer zwischen dir und mir geschehen ist, ist wahrscheinlich eine dieser Veränderungen. Ob das, was wir getan haben, richtig war oder nicht, weiß ich nicht. Aber ich habe beschlossen, nicht mehr unnötig zu urteilen. Falls es diesen Strom gibt, wollte ich mich ihm überlassen.«
    »Darf ich dir sagen, was ich über dich denke?«
    »Natürlich, bitte!«
    »Was du zu tun versuchst, ist vielleicht, verlorene Zeit nachzuholen.«
    Sie denkt einen Moment lang darüber nach. »Das kann sein«, sagt sie. »Aber woher weißt du das?«
    »Vielleicht tue ich das Gleiche.«
    »Verlorene Zeit nachholen?«
    »Ja«, sage ich. »In meiner Kindheit ist mir sehr viel genommen worden. Viel Wichtiges. Jetzt muss ich mir einiges davon zurückholen.«
    »Um weiterzuleben.«
    Ich nicke. »Ich muss es tun. Der Mensch braucht einen Ort, an den er immer wieder zurückkehren kann. Jetzt ist es vielleicht noch nicht zu spät. Für mich nicht und auch für dich nicht.«
    Sie schließt die Augen und legt die Hände über dem Schreibtisch zusammen. Dann schlägt sie wie resigniert die Augen wieder auf.
    »Wer bist du?« fragt sie. »Warum weißt du so vieles?« EIGENTLICH müsste sie wissen, wer du bist, sagst du. ich bin »kafka am strand«. dein geliebter, dein sohn. der junge namens krähe. und wir können nicht frei werden. wir befinden UNS IN EINEM GROSSEN STRUDEL. MANCHMAL AUSSER-HALB DER ZEIT. WIR SIND IRGENDWO VOM BLITZ GETROFFEN WOR-DEN. VON EINEM LAUTLOSEN, UNSICHTBAREN BLITZ.
     
    In dieser Nacht umarmt ihr euch wieder. Du hörst das Geräusch, das die Leere in ihr ausfüllt. Es ist ein leises Geräusch, wie das Rieseln von feinem Seesand im Mondlicht, und du lauschst ihm mit angehaltenem Atem. Du bist in deiner Hypothese, du bist außerhalb deiner Hypothese. In deiner Hypothese. Außerhalb deiner Hypothese. Einatmen, Luft anhalten, ausatmen. Einatmen, Luft anhalten, ausatmen. Ununterbrochen windet sich der Gesang von Prince in deinem Kopf wie eine Molluske. Der Mond geht auf, die Flut kommt. Meerwasser mischt sich mit den Flüssen. Die Zweige des Hartriegelstrauches vor dem Fenster schwanken hektisch. Du nimmst sie in die Arme. Sie birgt ihren Kopf an deiner Brust. Du spürst ihren Atem auf deiner nackten Haut. Sie zeichnet jeden Einzelnen deiner Muskeln nach. Dann streichelt sie sanft deinen geröteten

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