Kafka am Strand
setzte sich damit auf eine Bank und schaute das Kinoprogramm durch. In einem Kino in der Nähe des Bahnhofs lief eine François-Truffaut-Retrospektive. Er hatte keine Ahnung, wer dieser François Truffaut war (nicht mal, ob es ein Mann oder eine Frau war), aber es gab zwei Filme nacheinander, und da er sich die Zeit bis zum Abend vertreiben musste, beschloss er, sie sich anzusehen. Gezeigt wurden »Sie küssten und sie schlugen ihn« und »Schießen Sie auf den Pianisten«. Es waren nur wenige Zuschauer im Kino. Hoshino war nicht gerade das, was man einen Cineasten nennt. Er trottete zwar hin und wieder ins Kino, sah sich aber nur Kung Fu- und Action-Filme an. So gab es in den beiden alten Truffaut-Filmen mehrere Dinge und Passagen, die für ihn schwierig zu verstehen waren. Zudem spielte sich alles sehr langsam ab. Doch trotz allem war Hoshino fähig, die einzigartige Atmosphäre, die Nuancen der Szenen und die suggestive psychologische Darstellung in den Filmen zu genießen. Zumindest langweilte er sich nicht. Als die Filme zu Ende waren, hätte er nichts dagegen gehabt, sich noch weitere Werke dieses Regisseurs anzuschauen.
Nach dem Kino ging er zu Fuß zur Einkaufsstraße und betrat dasselbe Café wie am Abend zuvor. Der Inhaber erkannte ihn gleich. Der junge Mann setzte sich wieder in denselben Sessel und bestellte Kaffee. Auch heute waren keine anderen Gäste da. Aus den Lautsprechern ertönte ein Cello-Konzert.
»Das erste Cello-Konzert von Haydn, gespielt von Pierre Fournier«, sagte der Inhaber, als er den Kaffee brachte.
»Es klingt sehr natürlich«, sagte Hoshino.
»Da haben Sie ganz Recht«, pflichtete der Cafetier ihm bei. »Pierre Fournier schätze ich von allen Musikern am höchsten. Er ist wie ein erlesener Wein – er hat Aroma, Körper, wärmt das Blut und stärkt das Herz. Ich nenne ihn stets ›Meister Fournier‹. Natürlich bin ich nicht persönlich mit ihm bekannt, aber er ist der Lehrer meines Lebens geworden.«
Während er Fourniers fließenden, feinen Celloklängen lauschte, dachte Hoshino an seine Kindheit. An die Zeit, in der er jeden Tag zum Fluss gelaufen war, um Schmerlen zu fangen. Damals brauchte er über nichts nachzudenken. Es genügte, wenn er einfach lebte. Solange er am Leben war, war er etwas. Es hatte sich ganz natürlich so ergeben. Doch mittlerweile war das nicht mehr so. Durch das Leben war er zu einem Nichts geworden. Es war schon eine komische Sache. Ein Mensch musste doch, um zu leben, geboren werden? Oder etwa nicht? Dennoch verlor er, je länger er lebte, immer mehr von seinem Inhalt. Und vielleicht würde er im Laufe seines Lebens zunehmend zu einem überflüssigen, leeren Menschen werden. Da stimmte doch etwas nicht. Das durfte es doch nicht geben. Ob er den Lauf der Dinge irgendwie ändern konnte?
»Entschuldigen Sie«, sprach Hoshino den Inhaber an, der an der Kasse stand.
»Ja, bitte?«
»Könnten Sie vielleicht, wenn Sie Zeit hätten und es Ihnen nicht lästig ist, mal herkommen und ein bisschen mit mir reden? Ich würde gern was über diesen Haydn erfahren, der das Stück gemacht hat.«
Der Cafetier, eigentlich ein scheuer Mann, gesellte sich zu Hoshino und erzählte ihm angeregt von Haydns Musik und Leben, denn wenn es um klassische Musik ging, wurde er sehr gesprächig. Haydn war Musiker von Beruf gewesen, hatte während seines langen Lebens vielen Fürsten gedient und in ihrem Auftrag zahlreiche Stücke komponiert. Er war äußerst praktisch, liebenswürdig und bescheiden. Zugleich war er jedoch auch ein komplizierter Mensch, der eine stille und dunkle Seite in sich barg.
»In gewisser Hinsicht war Haydn eine rätselhafte Persönlichkeit. Niemand wusste, welch heftiges Pathos sich in seinem Inneren verbarg. Wie es der Epoche der Aristokratie entsprach, in der er geboren wurde, versteckte er sein Ego geschickt unter dem Mantel des Gehorsams und gab sich stets lächelnd und gefällig. Andernfalls wäre er gewiss untergegangen. Vielen Menschen gilt Haydn im Vergleich zu Bach und Mozart als zu oberflächlich, sowohl was seine Musik als auch sein Leben angeht. Gewiss hat er in seinem langen Leben vergleichsweise wenig Innovatives, geschweige denn Avantgardistisches geleistet. Aber wenn man mit ganzem Herzen und sehr aufmerksam lauscht, kann man eine geheime Verehrung für das moderne Ich heraushören. Unaufdringlich schwingt sie als fernes Echo, das den Widerspruch einschließt, in Haydns Musik mit. Hören Sie zum Beispiel einmal auf diesen Akkord. Da,
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