Kafka am Strand
kein Zurück mehr. Es ist wie in einem Labyrinth. Weißt du übrigens, wo das Labyrinth erdacht wurde?«
Ich schüttele den Kopf.
»Soweit ich weiß, haben die alten Mesopotamier als Erste den Begriff des Labyrinths geschaffen. Sie nahmen die Eingeweide von Tieren – oder vielleicht auch die von Menschen – und lasen daraus die Zukunft. Die komplizierten, verschlungenen Formen beeindruckten sie. Eingeweide sind also die Urform des Labyrinths. Das Prinzip des Labyrinths spiegelt dein eigenes Inneres wider, das wiederum ein Spiegel der labyrinthischen Eigenschaften deiner Außenwelt ist.«
»Eine Metapher«, sage ich.
»Genau. Eine reziproke Metapher. Das, was außerhalb von dir ist, projiziert sich auf dein Inneres, und umgekehrt. Durch das Betreten eines äußeren Labyrinths gelangt man häufig auch in das innere Labyrinth. Und das ist oftmals gefährlich.«
»Wie bei Hansel und Gretel im Wald.«
»Stimmt, sie geraten in die Falle des Waldes. Auch wenn du sehr vorsichtig und vorausschauend bist, kommen die Vögel mit ihren scharfen Augen und picken die Brotkrumen auf, die du als Wegweiser ausgestreut hast.«
»Ich pass schon auf«, sage ich.
Oshima öffnet das Verdeck seines Roadsters und steigt ein. Er setzt seine Sonnenbrille auf und legt die Hand auf den Schaltknüppel. Das vertraute Motorengeräusch dröhnt durch den Wald. Oshima streicht sich das Haar zurück, winkt mir kurz zu und fährt davon. Eine Staubwolke erhebt sich, wird aber sofort vom Wind davongetragen.
Ich gehe in die Hütte, lege mich auf das Bett, auf dem gerade noch Oshima geschlafen hat, und schließe die Augen. Eigentlich habe ich in der letzten Nacht ja auch kaum geschlafen. Ich spüre Oshimas Gegenwart auf dem Kissen und in der Decke. Nein, nicht Oshimas Gegenwart, eher etwas, das nach Oshimas Schlaf zurückgeblieben ist und in das ich meinen Körper nun hineingleiten lasse. Als ich etwa eine halbe Stunde geschlafen habe, ertönt vor der Hütte ein lautes Krachen. Als ob ein Ast irgendetwas Schweres nicht mehr tragen konnte, abgebrochen und auf die Erde gefallen ist. Ich wache auf, gehe auf die Veranda hinaus und schaue mich um, aber soweit ich sehen kann, hat sich nichts verändert. Wahrscheinlich eines von den rätselhaften Geräuschen, wie sie hin und wieder im Wald entstehen. Oder ich habe geträumt. Ich kann es nicht unterscheiden.
Ich setze mich auf die Veranda und lese, bis die Sonne gen Westen sinkt.
Schweigend und allein verzehre ich mein einfaches Abendessen. Nachdem ich das Geschirr weggeräumt habe, lege ich mich auf das alte Sofa und denke an Saeki-san.
»Wie Oshima sagt, ist sie eine sehr kluge Frau und hat ihren eigenen Stil«, sagt Krähe.
Er setzt sich neben mich aufs Sofa. Wie damals im Arbeitszimmer meines Vaters.
»Sie ist ganz anders als du«, sagt er.
SIE IST GANZ ANDERS ALS DU. SAEKI-SAN HAT SCHON DIE VER-SCHIEDENSTEN SITUATIONEN – dinge, die man nicht alltäglich NENNEN KANN – ERLEBT. SIE WEISS VIELES, WAS DU NICHT WEISST, und hat gefühle erlebt, von denen du noch keine ahnung hast. sie kann besser unterscheiden, was im leben WICHTIG IST UND WAS NICHT. SIE HAT SCHON VIELE WICHTIGE ENTSCHEIDUNGEN gefällt und deren folgen erfahren.
Du ABER NICHT. So IST ES DOCH? LETZTEN ENDES BIST DU NUR EIN KIND MIT EINEM BEGRENZTEN ERFAHRUNGSHORIZONT. Du STRENGST DICH UNHEIMLICH AN, STARK ZU WERDEN. UND IN MANCHER HINSICHT bist du auch stärker geworden, das muss ich zugeben. aber der neuen situation in dieser neuen welt stehst du ziemlich hilflos gegenüber, weil du diese erfahrungen zum ersten mal machst.
Du bist hilflos. Die sexuellen Begierden einer Frau sind für dich ein unverständliches Phänomen. Natürlich ist dir theoretisch klar, dass Frauen eine Libido haben. Das weißt sogar du. Aber du hast keine Ahnung, welcher Art sie ist und welche Empfindungen dabei praktisch im Spiel sind. Deine eigene Libido ist leicht zu verstehen. Sie ist sehr simpel. Aber die weibliche Lust, insbesondere die von Saeki-san, entzieht sich deinem Verständnis. Empfindet sie die gleiche körperliche Lust wie du, wenn sie dich umarmt? Oder unterscheidet ihre sich ganz wesentlich von dem, was du empfindest?
Je mehr du darüber nachdenkst, desto mehr erbittert es dich, dass du erst fünfzehn bist. Du bist sogar verzweifelt. Wenn du zwanzig wärst, nein, achtzehn würde schon reichen, zumindest nicht fünfzehn, dann könntest du Saeki-san als Mensch und den Sinn ihrer Worte und Handlungen besser verstehen. Und
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