Kafka am Strand
schwer.«
»Kann ich mir schon denken«, sagte Hoshino. »Aber in dem Beiheft von der CD steht, dass Beethoven nicht hören konnte. Beethoven war ein großer Komponist und galt in seinen jungen Jahren als Europas bester Pianist. Seine Konzerte waren hochberühmt. Doch eines Tages verlor er durch eine Krankheit sein Gehör. Nicht mehr hören zu können ist eine Katastrophe für einen Komponisten. Verstehst du das?«
»Ja, es kommt Nakata so vor, als könnte er es irgendwie verstehen.«
»Es ist im Grunde das Gleiche, wie wenn ein Koch seinen Geschmackssinn verliert. Oder ein Frosch seine Schwimmhäute. Oder ein Fernfahrer seinen Führerschein. Die Lage ist quasi aussichtslos. Aber Beethoven hat nicht aufgegeben. Ich glaube, sein Unglück hat ihn ziemlich niedergehauen, aber besiegt hat es ihn nicht. Das Leben ist eine Achterbahn, mal geht’s rauf, mal runter. Jedenfalls hat er einfach weiterkomponiert und noch herrlichere Musik mit noch tieferem Inhalt als vorher geschaffen. Großartige Werke. Zum Beispiel das Erzherzog-Trio, das ich vorhin gehört habe, hat er komponiert, als er schon nicht mehr hören konnte. Es ist bestimmt lästig und schwer für dich, dass du nicht lesen kannst, aber Lesen ist nicht alles. Dafür gibt es andere Dinge, die nur du kannst. Du solltest es einmal von der Seite sehen. Zum Beispiel kannst du doch mit dem Stein sprechen!«
»Ja, stimmt. Nakata kann ein bisschen mit dem Stein sprechen. Früher konnte er mit Katzen sprechen.«
»Wahrscheinlich bist du der Einzige, der das kann. Auch wenn sie noch so viele Bücher lesen, können normale Menschen nicht mit Steinen oder Katzen sprechen.«
»Aber Herr Hoshino, Nakata träumt jetzt oft. Im Traum kann Nakata lesen. Aus irgendeinem Grund kommt es, dass er lesen kann. Und nicht mehr dumm ist. Nakata ist froh, er geht in die Bücherei und liest viele Bücher. Nakata liebt Bücher und liest ein Buch nach dem anderen. Aber plötzlich geht das Licht aus, und es wird stockdunkel. Jemand hat das Licht ausgemacht. Er kann nichts sehen. Und nicht mehr lesen. Dann wacht Nakata auf. Auch wenn es nur ein Traum ist, ist Lesenkönnen herrlich. Bücher lesen!«
»Hm«, sagte Hoshino. »Ich kann zwar lesen, aber ich lese nie ein Buch. Es trifft doch immer die Falschen.«
»Herr Hoshino?«, sagte Nakata.
»Was denn?«
»Was ist heute für ein Wochentag?«
»Samstag.«
»Dann ist morgen Sonntag?«
»Normalerweise schon.«
»Können wir morgen mit dem Auto fahren?«
»Klar, wohin fahren wir denn?«
»Das weiß Nakata nicht. Er denkt darüber nach, wenn wir eingestiegen sind.«
»Das glaubt mir echt keiner«, seufzte Hoshino. »Ich wusste, dass er das sagt.«
Am nächsten Morgen gegen sieben wachte der junge Mann auf. Nakata war schon auf und machte in der Küche das Frühstück. Hoshino ging ins Bad, wusch sich mit kaltem Wasser gründlich das Gesicht und rasierte sich mit dem Elektrorasierer. Das Frühstück bestand aus heißem weißem Reis, Auberginen, Misosuppe, getrockneter Makrele und eingelegtem Gemüse. Der junge Mann aß sogar noch eine zweite Portion Reis.
Während Nakata das Frühstücksgeschirr abräumte, schaute Hoshino sich wieder die Nachrichten an. Diesmal brachten sie einen kurzen Bericht über den Mordfall in Nakano. »Zehn Tage sind seit der Tat vergangen, und noch immer gibt es keine gesicherten Hinweise«, erklärte der NHK-Sprecher in unbeteiligtem Ton. Auf dem Bildschirm erschien ein Haus mit einem prächtigen Tor, einige Polizeibeamte standen an einem Absperrungsseil.
»Die Suche nach dem Sohn des Toten, der kurz vor dem Mord verschwunden ist, wird fortgesetzt. Weiterhin fehlt von ihm jede Spur. Auch nach dem sechzigjährigen Mann aus der Nachbarschaft, der gleich nach der Tat eine Polizeiwache aufgesucht und den Mord gemeldet hatte, wird weiter gefahndet. Ob zwischen den beiden eine Beziehung besteht, ist noch unklar. Da es im Haus keine Spuren von räuberischer Gewalteinwirkung gibt, ist nicht auszuschließen, dass es sich um einen persönlichen Racheakt gehandelt hat. Gegenwärtig unterzieht die Polizei das gesellschaftliche Umfeld des Opfers Tamura einer genaueren Untersuchung. Um das künstlerische Lebenswerk Tamuras zu würdigen, wird das Nationalmuseum für Moderne Kunst in Tokyo –«
»Nakata, hör mal!«, rief der junge Mann zu Nakata hinüber, der in der Küche stand.
»Jawohl, was ist denn?«
»Wäre es möglich, dass du den Sohn von dem Mann kennst, der in Nakano ermordet wurde? Er scheint erst
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